: „Trotz allem bleiben liegt mir nicht“
Einer, der nicht mehr vorgedachten Ansprüchen entsprechen möchte: offener Brief des Schriftstellers Martin Walsers an die Mitarbeiter des Frankfurter Suhrkamp-Verlages
Liebwerte Damen, werte Herren,
ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Der Suhrkamp-Verlag, das waren für mich immer Sie. Sie in der Herstellung, in der Buchhaltung, in der Abteilung für die Presse, fürs Ausland, für die Lesereisen, fürs Theater, im Archiv, im Lektorat … Für mich war der Verlag nicht das kulturelle Etikett, das er sich gern geben ließ und das natürlich, auch von Ihnen, gepflegt werden musste.
Im Anfang hat man es als Autor nur mit zwei, höchstens drei Menschen zu tun. Das sind sozusagen die Türhüter oder Tempelportiers, die darüber befinden, ob du hineindarfst. Sie schmecken an einem herum, nehmen Witterung auf, geben einem zu verstehen, dass man es ihnen zu verdanken haben wird, wenn man aufgenommen werde. Andererseits wollen sie, dass du kommst. Einen Lebensmoment lang ist man genauso Bewerber wie Umworbener. Ich hätte mich geniert, mein Umworbensein merken zu lassen oder gar auszuspielen.
Ich habe, obwohl ich auch bei Luchterhand hätte anfangen können und eigentlich durch die helle Aufmerksamkeit des Luchterhand-Lektors schon bei Luchterhand angefangen hatte, ich habe Herrn Suhrkamp gegenüber sofort und ausschließlich den kulturell Dankbaren gegeben. Ich glaubte, gespürt zu haben, dass er es so am liebsten hatte. Und mir, reich an vor mir liegenden Jahren, war es auch recht.
Dann die Praxis. Die vom Main bis zum Westend aufsteigende Verlagsadresse: Schaumainkai. Grüneburgweg. Lindenstraße.
Was und wie ein Autor mit einem Verleger beziehungsweise seinem Verleger zu tun hat, gehört jetzt nicht hierher. Ich verabschiede mich nicht von einem Verleger, sondern vom Verlag, also von einer andauernd in Vergangenheit übergehenden Gegenwart. Und diesen Übergang besorgen eben Sie, die so genannten Mitarbeiter. Man liefert beschriebenes Papier ab oder, bitte, jetzt die Diskette, man ist einer unter hunderten, und die hundert und aberhundert Textlieferungen werden im Verlag verwandelt in Bücher, Bilder, Ansehen, Bestätigung jeder Art, zum Beispiel Geld. Und doch ist, was da durch viele Hände zustande kommt, kein bisschen Fließbandarbeit.
Tausendundeine Reaktion habe ich empfangen aus diesem Verlag. Alles betreffend. Die Lesung in Brunsbüttelkoog, die Papierqualität für „Brandung“, den Kontostand im Frühling und den nach dem Herbst, das Umschlagbild fürs „Fliehende Pferd“ und für „Seelenarbeit“ … Und jetzt das einigermaßen Wunderbare: Sie in den vielen Zimmern haben mich immer und, wie ich glaubte, anstrengungslos behandelt, als bestünde der Verlag nur aus mir, als wäre ich überhaupt der einzige Autor.
Das war und ist eine Illusionsglanzleistung. Spitze. So etwas wissen Autoren zu schätzen. Autoren sind halt illusionssüchtig. Vielleicht nicht nur Autoren. Aber der Unterschied zwischen Ihnen, dem wirklichen Verlag, und den zwei, drei Tempelportiers weiter oben war manchmal schon beträchtlich. Sie haben mich immer behandelt, als sei ich ich selber. Und das jahrzehntelang. Und ohne Gedöns. Einfach spürbar.
Zuerst ist man in Ihren hundert Zimmern mit mir umgegangen wie mit einem Sohn, von dem man sich etwas verspricht, dem man einfach alles leichter machen möchte, also in eine illusionsfördernde Fastzärtlichkeit wird man da getaucht. Dann allmählich war man gleich alt, beziehungsweise erwachsen, es konnte auch von dir erwartet werden, zu der hier generell betriebenen Illusionsproduktion einen Beitrag zu leisten. Dann sind Sie immer jünger, bin ich immer älter geworden. Die Herzlichkeit, die man zuerst dem Sozusagen-Sohn erwies, spendete man jetzt dem, der mindestens der Vater sein könnte. Dieses andauernde Geltenlassen erfindet immer wieder Gesten des reinen Einvernehmens, unkomplizierte Eintracht herrscht da.
Ich bleibe vorsichtig, will nicht noch kassieren, aber gestehen muss ich, dass ich mit vielen Empfindungen hineinverwoben bin in diese hundert Zimmer. Also gestehe ich auch, dass es leichter ist, sich von einer Verlagsleitung zu verabschieden als von einem Verlag. Eine Verlagsleitung, das ist immer ein Prinzip, ein Wappen, eine Kultur. Ein Verlag, das sind Menschen. Von denen sich zu verabschieden, das ist, sich vom Leben verabschieden. Na ja. Zum Teil halt. Aber zum Teil schon. Zu einem guten Teil sogar. Und das Verabschieden wäre, wenn es auf Sie, liebwerte Damen und werte Herrn angekommen wäre, gar nicht nötig geworden. Sie haben genug darüber gehört, glaube ich. Ich auch.
Ich bin dreimal ins Blitzlicht einer Zeitgeistfraktion geraten, die sich auf die Aufklärung beruft und nach Autorität trachtet. Zum ersten Mal 1995 (Laudatio auf Victor Klemperer: „Das Prinzip Genauigkeit“), dann 1998 („Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“), und 2002 („Tod eines Kritikers“). Beim dritten Mal wurde von außen, unter Verletzung geltender Regeln, ein Skandal angezettelt, und ich wurde Zeuge, wie die Verlagsleitung vor dieser Autorität in die Knie ging. Siegfried Unseld wäre nicht in die Knie gegangen. Er war ja mit den angefochtenen Arbeiten von mir 1995 und 1998, auch mit dem Buch, zu dem dann der Skandal inszeniert wurde, ohne Einschränkung einverstanden. Er war zwar noch da, konnte aber nicht mehr handeln.
Und die zwei Mitarbeiter, die anno 2002 versucht haben, mir das Bleiben zu ermöglichen, sind nicht mehr im Verlag. Wenn ich jetzt noch bliebe, hieße das, ich wolle trotz allem bleiben. Das liegt mir nicht. Sie alle wissen, dass die so genannte Suhrkamp-Kultur nie nur eine literarische war, sondern immer auch die Kultur einer bestimmten Denk- und Verhaltenstugend. Das soll sie bleiben. Ich aber möchte nicht vorgedachten Ansprüchen entsprechen müssen, sondern die Welt auf meine Art ausdrücken, in einer sozusagen ungetauften Sprache.
Ihnen wünsche ich alles Gute! Ihnen allen bleibe ich dankbar!
Sie grüße ich ganz herzlich, Ihr Martin Walser