: Trash aus der anderen Welt
Ob abgefilmtes Wandertheater oder Horror-Melodram: In Nigeria werden Jahr für Jahr 1.000bis 1.200 Videos produziert, ohne dass auswärtige Filmindustrien dabei irgendeine Rolle spielten
VON OLAF MÖLLER
Eines der faszinierendsten Phänomene des internationalen Kinos der 90er-Jahre vollzog sich im Schatten internationaler Aufmerksamkeit: In Nigeria erfand sich eine ganze Kinematografie selbst; explosionsartig expandierte sie bald auch über die Landesgrenzen hinaus und erweckte das Filmschaffen kolonialhistorisch verwandter Länder wie Ghana und Kenia wieder zum Leben – und das alles auf Video, mit Produktionen wie „Outkast“ oder „Polygamy 2: The Final Clash“ (beide 2002, beide von Alt-Exploiter Chico Ejiro).
Dieser Tage scheint der nigerianische Videofilm immerhin so wichtig geworden zu sein, dass ihm zwei Antipoden der Filmfestivalkultur, die Berlinale und das Internationale Filmfestival Rotterdam, in ihren je letzten Durchgängen einen Programmschwerpunkt widmeten: Rotterdam präsentierte eine Werkschau des Yoruba-Auteurs Tunde Kelani, die Berlinale eine zweitägige Sonderveranstaltung mit Diskussionen, Workshops, Videofilmvorführungen et cetera.
Dabei hätte man das längst schon entdecken und erforschen können. Die Videofilm-Früchtchen sind nämlich näher, als man glaubt. Videofilme aus Nigeria gibt es in vielen afrikanischen Geschäften hier für drei, vier Euro zu kaufen. Umso erstaunlicher, dass nicht schon vor Jahren in den sonst so findigen Trashfilm-Zirkeln Nigeria zum Kultkinoland stilisiert wurde. Denn mehr als Trash ist der allergrößte Teil dessen, was da im anglofonen Westafrika produziert wird, nicht: Es sind pornobillig für 100.000 bis 250.000 Naira (etwa 600 bis 1.500 Euro) runtergerissene Sensationsfilme, meist melodramatische Mixturen aus Horrorfilm, Schnulze und Actionthriller mit Komödieneinlagen. Z-Entertainment, haarsträubend windschief und deshalb extrem großartig.
Sollte irgendjemand neue filmkünstlerische Impulse aus Nigeria erwarten: vorläufig wohl nicht. Selbst die Werke Tunde Kelanis, des wichtigsten zeitgenössischen Filmemachers, würden es unter normalen Umständen bloß als filmpolitische Ablässe in irgendwelche Nebenschienen der hiesigen Festivals schaffen.
Kelanis Relevanz liegt in den Inhalten: In „Thunderbold“, (2001) geht es um die Spannungen zwischen den diversen dominanten Volksgruppen; in „Sawaroide“ (1999) darum, wie der Weg von der allgemeinen politischen Korruption in die Militärdiktatur führte; in „Ti oluwa nile“ (1997) um die hemmungslose Modernisierungswut.
Zwar haben seine Filme im Vergleich zu denen seiner Kollegen ein gewisses dezentes Raffinement in der Regie, doch dass er seine Inhalte überzeugend inszenatorisch durchdenken würde, wäre zu viel gesagt. Das heißt jedoch nicht, dass sich in Zukunft die Produktionsbedingungen nicht verbessern könnten. Das nötige Qualitätsbewusstsein dazu ist bei vielen Produzenten und Regisseuren gegeben. Nur kommen sie im frenetischen Kampf um die Zuschauergunst nicht dazu, auf die Zukunft hinzuarbeiten.
Vor allem ist der nigerianische Videofilm ein ökonomisches Phänomen: Innerhalb von etwas mehr als zehn Jahren – wenn man Christian Onus „Living in Bondage“ (1992), die erste Igbo-Videofilm-Produktion, als Meilenstein nimmt – entwickelte sich eine diversifizierte Industrie, die mittlerweile circa 1.000 bis 1.200 Videofilme pro Jahr hervorbringt. Angesichts solcher Zahlen ahnt man, warum das Gros dieser Produktionen derartig unbehauen ist: Fast niemand in der Videofilmindustrie besitzt so etwas wie eine formale Ausbildung für seinen Beruf. Kelani ist eine Ausnahme, da er schon in der Zelluloidära als Kameramann tätig war. Zeb Ejiro oder Amaka Igwe sind weitere Ausnahmen, da sie beide beim Fernsehen als Regisseure angefangen haben. Die meisten Videofilmemacher sind Autodidakten, oft genug Händler mit Beziehungen zur Medienbranche, wie etwa der Produzent Kenneth Nnebue, der, allgemeiner Geschichtsschreibung zufolge, die Yoruba- wie die Igbo-Videofilmproduktion vom Büro seines Elektrohandels aus begründete. Andere kamen aus der Videopiraterie-Branche, wieder andere handelten mit Leerkassetten. Eine der verschrobensten Legenden über die Anfänge des nigerianischen Videofilms besagt, dass die Leerkassetten-Händler Filme als Kaufanreiz gedreht hätten. Denn niemand habe die leeren Bänder kaufen wollen.
Nun hat das Filmemachen von Nichtregisseuren in der nigerianischen Filmkultur eine gewisse Tradition, die bis in die Zelluloidära zurückreicht. 1975 adaptierte Ola Balogun, der größte Filmemacher Nigerias, das Stück „Ajani Ogun“ des Yoruba-Wandertheater-Autors Duro Ladipo. Der Film entwickelte sich zu einem absoluten Kassenschlager. Nach wenigen Jahren kamen die Yoruba-Wandertheater-Macher auf die Idee, ihre Stücke selbst zu verfilmen. Um kostengünstiger arbeiten zu können, verwendeten sie immer billigere Trägermaterialien (von 35 mm zu 16 mm zu Umkehrmaterial), bis sie 1988 endgültig beim Video landeten. Zuerst transferierten sie es noch auf 16-mm-Film zurück. Eine Videovorführung in Oshogbo, bei dem das Publikum aus Wut über das schlechte Beamerbild das Kino zerstörte, war allen eine Lehre.
Dabei begnügten sich die Yoruba-Wandertheater-Macher nicht damit, ihre Stücke zu verfilmen beziehungsweise in TV-Serien zu verwandeln: Sie integrierten auch Film- und Videoprojektionen in ihre Aufführungen. Als die Kinosäle in Nigeria mit der Militärdiktatur endgültig schließen mussten – niemand traute sich abends mehr auf die Straße: wenn nicht wegen der Ausgangssperren, dann wegen der Area Boys, der lokalen Gangster –, entwickelte sich das Heimkino per Video zum Hort des Kinos.
Etwa zur gleichen Zeit, da die Yoruba von Film auf Video umstiegen, brachten auch die beiden anderen großen nigerianischen Volksgruppen, die Igbo und die Haussa, eigene Theatervideo-Produktionen hervor: Jene realisierten kurze Videos mit komischen Sketchen, diese filmten Aufführungen lokaler Amateurtheatergruppen ab.
Obwohl die Yoruba das Modell lieferten, waren es am Ende die Igbo, die den nigerianischen Videofilm aus dem Boden stampften. Die Igbo gelten als geschäftstüchtig und familienorientiert. Die Videoproduktion rechnete sich schnell und gut – ganz im Gegensatz zu dem riskanten, zeitraubenden Medium Film – und brachte außerdem ein Produkt hervor, das man gemeinsam mit den Lieben daheim konsumieren konnte. Und: Für Videos existierte von Anfang an ein Vertriebssystem, also das, was das Kino nie aufbauen konnte, weshalb der nigerianische Film allen Bemühungen um kommerziellen Erfolg zum Trotz nie wirklich in die Gänge kam. Zumal es keinen paternalistisch veranlagten Exkolonialherrn wie Frankreich gab, der mit Subventionen und Vertriebswegen vieles erleichtert, zugleich aber gesagt hätte, was für eine Art von Kino dafür wohlfeil wäre. Die Briten hingegen interessierten sich nicht weiter für die Geschicke ihrer ehemaligen Untergebenen.
Das Videokino entspräche sicherlich nicht ihren Vorstellungen: Es ist ein bizarr hybrides, synkretistisches Wesen, halb Theater lokaler Provenienz, halb Serien-TV nach brasilianisch-mexikanischem Vorbild – was immer wieder zu Laufzeiten zwischen drei und sechs Stunden führt –, angemacht mit viel Slasher-Horror, Hongkonger Kampfkunstspektakel und einer gehörigen Portion Bollywood. Auch das ist nicht wirklich neu in Nigeria, wie die in den 70ern und 80ern gedrehten Filme Eddie Ugbomahs zeigen: Der True-Crime-Reißer „The Rise and Fall of Dr. Oyenuzi“ von 1977 oder der Polit-Thriller „Death of a Black President“ von 1983 zum Beispiel sind von westlichen wie von Hongkonger Modellen beeinflusst.
Die Igbo-Macher waren es schließlich, die all diese Stränge und Einflüsse zu vereinen wussten. Letztendlich gibt es nicht ein nigerianisches Videofilm-Schaffen, sondern viele: Die Yoruba und die Haussa produzieren primär für die jeweils eigene Volksgruppe, auf Yoruba respektive Haussa und normalerweise ohne Untertitel, während die Igbo sowohl in Igbo als auch Englisch beziehungsweise Pidgin drehen. Die Haussa-Industrie ist regional von den beiden anderen getrennt: Die Yorubo- und Igbo-Industrien sind im Süden, in Lagos, die Haussa-Industrie hingegen ist im Norden, in Kano, verankert; die Igbo kontrollieren außerdem die kaufkräftigen Handelszentren von Aba, Enugu und Onitsha, was ihnen die beste Ausgangsbasis für den Verkauf ihrer Waren verleiht. Wie separat die Industrien sind, zeigte sich 2002, als die Igbo-Produzentengilde einen Produktionsstopp veranlasste, um den überquellenden Markt zu regulieren. Weder die Yoruba noch die Haussa wurden davon berührt.
Das Faszinierende an diesen Entwicklungen in Westafrika ist, dass eine Video- beziehungsweise Filmindustrie vor sich hin wuchert, die vollkommen unabhängig von den internationalen Märkten, ganz klar lokal in Formen wie Inhalten funktioniert, extremer noch, als es in vergleichsweise autarken Märkten wie Indien, den Philippinen oder Hongkong noch bis vor kurzem der Fall war – und das in einem Augenblick, da etwa in Indien angestrengt darüber nachgedacht wird, wie man die einheimischen Produkte für das Ausland attraktiver gestalten kann.
Die Videofilme, die in Nigeria entstehen, sind nicht für das weiße Ausland gedacht: Niemand läuft den Briten hinterher und bettelt um ihr Geld oder ihren Segen, niemand interessiert sich für die Meinung einiger Macher in Paris oder New York, und selbst geschäftlich sind zum Beispiel Deutschland und Italien – zumindest jetzt noch – völlig uninteressant. In vieler Hinsicht ist das der letzte Schritt zur endgültigen Entkolonialisierung: Man lässt uns hinter sich, wir müssen das Interesse an den Produkten aufbringen, zu deren künstlerischen Bedingungen, und wenn die ärmlich sind, dann hat das viel mit der Realität des Landes zu tun. Wie befremdlich die Geschichten von den Geld kotzenden Mumien rituell abgeschlachteter Ehefrauen auch auf uns wirken mögen: Es ist ihre Welt. Das hat etwas sehr Beruhigendes an sich. Die Welt ist größer, als wir uns einreden.