: Allahs Kader
Die theoretischen Grundlagen für einen islamischen Fundamentalismus wurden Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt. Einer seiner Vordenker war der muslimische Inder Sayyid Abu-’l-Ala Maududi
von MARTIN RIEXINGER
Obwohl der islamische Fundamentalismus zu einem beherrschenden Thema unserer Medien geworden ist, verengt sich das Interesse merkwürdigerweise auf aktuelle Ereignisse. Wie diese Ideologie Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstand, findet hingegen kaum Beachtung. Leben und Werk ihrer Vordenker sind der breiten Öffentlichkeit trotz ihres immensen Einflusses auf das Weltgeschehen unbekannt.
Biografie und Schriften von Sayyid Abu-’l-Ala Maududi (1903–1979) zeigen deutlich, welche Krisenerfahrungen, aber auch welche geistigen Traditionen und welche Anregungen aus dem Westen zur Entstehung dieser Ideologie führten. Maududi war kein typischer Religionsgelehrter (alim). Er entstammte der indisch-muslimischen Aristokratie, doch war seine Familie verarmt. Der Vater lehnte das weltliche Bildungssystem als gottlos ab. Damit verbaute er seinen Söhnen den Weg zu einer Karriere im Staatsdienst.
Der jüngste von ihnen, Abu-’l-Ala, musste sich daher schon siebzehnjährig als Journalist seinen Lebensunterhalt verdienen, als sein Vater starb. Dadurch kam er in Kontakt mit jenen Religionsgelehrten, die um 1920 im Bündnis mit Gandhi für die Unabhängigkeit Indiens stritten. Er nutzte diese Gelegenheit, um bei ihnen Kenntnisse in islamischem Recht und in Koranexegese zu erwerben, die ihn für ein Lehramt an einer religiösen Lehranstalt qualifiziert hätten. Doch stand sein Sinn nicht danach. Denn zugleich hatte er sich Englisch beigebracht und sich autodidaktisch ein beachtliches Wissen über die europäische Geschichte und westliche Philosophie angeeignet.
In den Ideen, die er dadurch kennen lernte, erkannte er eine Gefahr für den Islam. Den traditionellen Gelehrten warf er vor, dass sie diese Gefahren aber nur verdammten, ohne sie systematisch zu analysieren. So könne man ihnen nicht wirkungsvoll begegnen. Ab 1932 verkündete er allmonatlich in seiner Zeitschrift Tarjuman ul-Qur’an seine Vorstellungen. Maududi bestand darauf, dass der Islam nicht als eine Sammlung von Ge- und Verboten verstanden werden dürfe. Stattdessen handele es sich um ein geschlossenes System, dessen Elemente aufeinander aufbauen. Für die Wahrheit dieses Systems bürge sein Ursprung in der göttlichen Offenbarung. Unvermeidlich stehe es daher im Gegensatz zu menschgemachten Gesetzen. Für einen wahren Muslim gebe es daher keine andere Option, als für die Durchsetzung der Gebote Gottes zu streiten.
Ideologien und Gesellschaftsordnungen, die diesem Ideal nicht entsprechen, verdammt Maududi als Dschahilija. Dieser Begriff hatte bis dahin nur das Heidentum der vorislamischen Araber bezeichnet. Wollte man aus der Ablehnung menschgemachter Ordnungen folgern, er habe „befreiungstheologisch“ das Individuum gegen den Übergriff menschlicher Autoritäten schützen wollen, könnte man nicht gründlicher irren.
Maududi verhehlt nicht, dass er unterschiedlichen Varianten des „Heidentums“ keinesfalls mit gleicher Distanz gegenübersteht. Von zweien konnte man aus seiner Sicht durchaus einiges lernen. So beschreibt er die Gemeinschaft der wahren Muslime als revolutionäre Elite. Dabei orientiert er sich an Lenins Konzept der Kaderpartei. Ebenso unverblümt benennt er sein Vorbild, als er erklärt, wie mit Abtrünnigen zu verfahren sei: Stalins Schauprozesse. Zwar verdammt er den kommunistischen Atheismus, doch imponiert ihm, wie die Sowjetunion durch zentrale Lenkung und Zwangsmittel alle materiellen und humanen Ressourcen mobilisierte, um die Gesellschaft in die gewünschte Richtung zu steuern. Als Maududi 1941 seine eigene Partei, die Jamaat-i-Islami, gründete, organisierte er sie folgerichtig nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ als Kaderorganisation.
Maududi verwirft die Idee der Nation, weil er in der Gemeinschaft der wahren Gläubigen die einzige legitime Gemeinschaft sieht. Rassismus verdammt er als unislamisch. Dennoch zollt er dem Faschismus Respekt. Hitler und Mussolini bewundert er als große Denker vom Range eines Marx oder Lenin. Schließlich hätten die beiden die verheerenden Folgen des auf dem Zinssystem basierenden Kapitalismus für die Menschheit durchschaut. Ihre gegen die Staatswirtschaft wie gegen das Finanzkapital gerichteten wirtschaftspolitischen Vorstellungen kommen daher seinem Ideal einer „islamischen Ökonomie“ nahe.
Den Liberalismus hingegen verabscheut Maududi in allen Aspekten. Ihn verdammt er, weil er auf dem Prinzip des Individualismus basiert. Der Liberalismus verlange vom Staat nur gegen solche Handlungen seiner Bürger vorzugehen, die anderen schaden. Durch diese Einschränkung führe er zur „schrankenlosen“ Gesellschaft ohne Moral. Maududi propagierte stattdessen, dass der Staat die Einhaltung der Gebote des Islam erzwingen müsse. Sein Ideal eines Staates, der jeglicher Unmoral tätig entgegentritt, zeigt sich besonders deutlich in seiner Haltung zur Stellung der Frau in der Gesellschaft. Sein antifeministisches Traktat „Parda“ fand in der islamischen Welt weite Verbreitung. Das Wort bezeichnet den Schleier, bei den südasiatischen Muslimen ist es zugleich Metapher für die Geschlechtertrennung.
Maududi fordert die weitgehende Verbannung der Frau aus der Öffentlichkeit. Die Forderung nach Gleichberechtigung verstoße gegen die göttliche Ordnung. Dass sich die Frau dem Manne unterordnen müsse, lasse sich aber nicht allein aus dem Koran und der Prophetenüberlieferung herleiten. Die moderne Wissenschaft habe bewiesen, dass die zyklischen Schwankungen die Fähigkeit der Frau beeinträchtigen, rational zu handeln. Zur Teilnahme an politischen Entscheidungen sei sie daher genauso wenig berechtigt wie Nichtmuslime.
Wenngleich sich Maududi moderne politische Organisationsformen zum Vorbild nahm und sich auf die „Wissenschaft“ berief, um die mindere Rechtsstellung der Frau zu legitimieren, war er ein Antimodernist durch und durch. Wie sehr sein Weltbild hergebrachten Vorstellungen verhaftet war, davon legt sein Korankommentar Zeugnis ab. In diesem sechsbändigen, zwischen 1942 und 1972 verfassten Werk polemisiert er gegen jene Modernisten, welche die Prophetenwunder, Engel und Dschinn rationalisierend umdeuteten. Er verteidigt den sunnitischen Glaubenssatz, dass Gott in jedem Moment alles nach seinem Willen geschehen lasse. Die Ursache einer Wirkung liege daher nicht in der Natur selbst. Die Vorstellung, es gebe Naturgesetze, beruhe somit auf einem materialistischen Irrtum. Deswegen gebe es keinen Grund, Wunderberichte allegorisch auszulegen: Als Moses Pharao entgegentrat, verwandelte Gott laut Koran (7: 107) dessen Stab in eine Schlange. Wieso solle es Gott unmöglich sein, Leben in einem Stab zu erzeugen, wenn er es in einem Ei hervorbringen kann?
Weil sie keine Erklärung anerkennt, die sich nicht auf materielle Ursachen zurückführen lässt, verwirft Maududi die moderne Naturwissenschaft als Teil der westlichen „Kultur des Zweifels“. Ein Gräuel war ihm besonders die Evolutionstheorie, weil sie statt eines auf den Menschen bezogenen Sinnes der Schöpfung lehrt, Zufälle und der Kampf ums Dasein hätten die Arten einschließlich des Menschen hervorgebracht. Wer die Menschen nicht als besondere Geschöpfe Gottes betrachte, sondern sie unterschiedslos dem Tierreich zuordne, entziehe jeglichem Moralgefühl die Grundlage. Somit verwandle er sie in Bestien, die einander auf dem Schlachtfeld der Gesellschaft bekämpfen.
Aus seiner Sicht der modernen Naturwissenschaft leitet Maududi die Forderung ab, alle Schulfächer auf eine Rolle als Stichwortgeber für theologische Konzepte zu reduzieren. Ein palästinensischer Anhänger Maududis, Ismail Radschi al-Faruki, popularisierte diese Forderung unter dem Schlagwort „Islamisierung des Wissens“. Internationale Organisationen unter saudischer Führung und einzelne islamische Staaten organisierten Konferenzen zu diesem Thema, während gleichzeitig Schulen und Universitäten verkamen. Die verheerenden Folgen einer Bildungspolitik, die der Ideologisierung Vorrang vor der Wissensvermittlung einräumt, hat erst vor ein paar Monaten wieder eine Studie arabischer Sozialwissenschaftler angeprangert.
Maududis Partei Jamaat-i-Islami fand in Pakistan nur in einigen größeren Städten Anhänger. Die Politik beeinflussten seine Ideen erst unter dem Militärdiktator Zia ul-Haq. Doch ihre Bedeutung resultiert ohnehin nicht aus ihrem Einfluss auf die pakistanische Tagespolitik, sondern aus der Faszination für islamische Fundamentalisten weltweit. Bereits Ende der Vierzigerjahre wurden seine Schriften ins Arabische übersetzt. Seine Polemik gegen Herrscher, die sich das göttliche Vorrecht der Gesetzgebung anmaßen, fiel bei Muslimbrüdern wie Sayyid Qutb (1906–1966) auf fruchtbaren Boden, als sie unter Ägyptens Präsident Nasser verfolgt wurden.
Während Maududi jedoch den gewaltsamen Umsturz ablehnte, propagierten seine Schüler, dass die gottlose Ordnung mit Gewalt beseitigt werden müsse. Auf diese Gedanken berufen sich Gruppierungen, welche für Anschläge auf Politiker (Sadat), Touristen und die christliche Minderheit die Verantwortung tragen, und bei der Entstehung von al-Qaida beteiligt waren. Doch nicht nur diese Radikalisierung ist auf den Einfluss Maududis zurückzuführen.
Er selbst suchte seit den Fünfzigerjahren den Kontakt zu Saudi-Arabien. Gestützt auf Petrodollars, baute das Königreich konservativ-islamische Organisationen und Bildungseinrichtungen auf, um sozialrevolutionären Strömungen das Wasser abzugraben. Viele Anhänger Maududis sind heute in diesen Institutionen tätig und versuchen von dort aus, durch eine Islamisierung aller Lebensbereiche gegen eine „schrankenlose Gesellschaft“ zu kämpfen.
MARTIN RIEXINGER, 35, forscht als Islamwissenschaftler in Freiburg über den Islam in Südasien