: Vom Atlantik zu den Sternen
Wandern durch alle Wetter: ein Kontinent namens La Palma. Der altgediente Hirtenpfad ist schon stark überwachsen und führt steil bergan. Selbst die Hirten gehen kaum mehr zu Fuß. Auch lassen Touristen sich besser melken als Ziegen
von STEFAN SCHOMANN
La Palma: ein Fels im Ozean, ein Miniaturkontinent, der aus 3.000 Metern Meerestiefe aufsteigt und fast 2.500 in den Himmel ragt. Ein Stein des Anstoßes für den Kanarenstrom und die Passatwinde, ein Labor für Thermik und für Turbulenzen. Ewiger Frühling? Ewige Unruhe!
Wir unternehmen eine wahrhaft atmosphärische Wanderung auf diesem Exerzierplatz der Elemente, eine sechstägige Inselüberschreitung von Nord nach Süd. Am Vortag, beim Bad in einer Meeresgrotte unweit von San Andrés, bekamen wir schon einen Vorgeschmack: tiefe Wolken über Land und Meer, raue Lava, jähe Klippen. Nehmt euch in Acht, sprach die Insel, ich bin nicht so lieblich, wie die Prospekte glauben machen.
Am Morgen herrscht kaltes Regenwetter im reizenden San Andrés. Verzagt trinken wir einen Milchkaffee nach dem anderen und wollen nicht recht los. Nur keine Sorge, versichert der Wirt und schenkt uns vier Bananen, gleich wird alles gut.
Und wahrhaftig, kaum raffen wir uns auf und steigen hoch zur Schwesterstadt Los Sauces, lösen die Wolken sich in Wohlgefallen auf. Die Sonne strahlt und heizt, in den Schluchten dampfen die Wälder. Es ist, als wäre man auf einer anderen Insel. Über zahllose kleine Terrassen erklimmen wir den Steilhang, der mit Bananenzeilen liniert sind. Wie grüne Lüster hängen die Stauden schwer im Schatten ihrer Blätter.
Als wir an einem Bauerngarten nach dem Weg fragen, schlägt die Señora die Hände vors Gesicht. „Zum Mirador? Zu Fuß? Aber das ist weit. Mindestens eine Stunde!“ Die Palmeros sind so wanderlustig wie Zedern. Unser Vorhaben, die ganze Insel zu durchmessen, macht unsere Gesprächspartner regelmäßig stutzig. Als frönten wir dort oben einer verrufenen Leidenschaft.
Der Blick weitet sich mit jedem Schritt und kulminiert am Mirador, bald 700 Meter über dem Atlantik, der leuchtend blau und weiß geschuppt bis ins Unendliche reicht. Im Laufe unserer Rast aber bezieht sich der Horizont, bis das Meer wie Bleiglanz schimmert. Und dann gießt es auch schon wie aus Eimern. Der Nordosten bildet die Wetterseite von La Palma. Hier lässt sich ein Klassiker der Erdkunde studieren: der Passat. Von Nordosten kommend stößt er auf La Palma wie gegen einen Wall. Seine Wolken rotten sich zusammen, quillen, verflüchtigen sich, steigen oder setzen sich fest. So haben sich, im Widerspiel globaler Kräfte mit lokalen Gegebenheiten, klar geschiedene Klima- und Vegetationszonen ausgeprägt.
Der Sockel der Insel ist mit Plantagen gekachelt. Spätestens ab 500 Metern Höhe aber werden die Lagen zu steil und zu feucht. Wo der Wolkenring sich um die Insel schmiegt, wächst bis auf gut 1.000 Meter Nebelwald, in dem Farne, Wacholder, Lorbeerbäume und Efeu zu einem grünen Zauberreich verfilzen. Eine Etage höher wuchert dann Macchia, Buschwerk mit Baumheide und Zistrosen. Bis auf 1.800 Meter reicht ein breiter, lichter Kieferngürtel. Darüber wachsen Ginstersträucher bis an den kahlen Kraterrand.
Der Forstweg beschreibt die üblichen Serpentinen. Die einzigen wirklich geraden Strecken auf La Palma finden sich in den Tunnels. Wir steigen noch, bis wir den Kopf wieder aus den Wolken stecken können, kampieren dann in einer Wegbiegung. Sämiger Tüteneintopf zum Souper. Die Katzenwäsche fällt aus – so feucht die Luft uns auch umweht, so wenig Quellen oder Bäche gibt es doch.
Ein Morgen dann wie an der Küste eines weißen Meers. Die Wolkendecke spannt sich bis hinüber nach Teneriffa und umschließt die schwebende Silhouette des Pico del Teide. Vorsichtig frühstücken wir. Wie kostbar Wasser wird, wenn man wenig davon hat. Und den Müsliriegel breche ich wie eine Hostie.
Der altgediente Hirtenpfad, mittlerweile nur mehr zwei Fuß schmal und schon stark überwachsen, führt steil bergan. Er verschwindet, weil selbst die Hirten kaum mehr zu Fuß gehen. Auch lassen Touristen sich besser melken als Ziegen. Ab 1.300 Meter dominieren dann Pinien, in weitem Umkreis rußgeschwärzt, Überlebende einer Feuersbrunst. Mit einer zentimeterdicken Borke gepanzert, treiben sie dicht und pelzig wieder aus. Oben erwartet uns die große Caldera. Seit der Vulkan vor vielleicht zwei Millionen Jahren kollabierte, gähnt hier ein mehr als tausend Meter tiefer Schlund, eine monumentale Hohlform, wie ein ins Erdinnere ragender Gipfel.
Flauschige Wolkenballons schweben in der Mitte der Arena. Spitze Schreie hallen aus den Klüften, die Schwalben gehen auf Schnäppchenjagd. Gegen Abend quellen immer mehr Wolken in den Kessel und lassen die südlichen Vulkane zu Inseln im Nebelmeer werden. Auf einem mächtigen, über dem Abgrund aufragenden Altan bauen wir unser Zelt auf. Kein Ort für Schlafwandler.
Nachts Sterne ohne Zahl, wie Sand. Wir sind gänzlich aus der Welt und doch hier oben nicht allein. Wie Riesenboviste stehen die Kuppeln der Observatorien drüben am Kamm. Allabendlich öffnen sich lautlos ihre Visiere. Europas Astronomen haben La Palma, gemeinsam mit Teneriffa, zum Standort für ihre Nordsternwarte gewählt. Dafür nehmen die Bewohner Auflagen in ihrem Nachtleben in Kauf. Ein „Büro zum Schutz des Himmels“ versucht die „Lichtverschmutzung“ einzudämmen. Daher die bernsteingelben, nur nach unten abstrahlenden Laternen in allen Gassen. Lichtreklamen sind stark eingeschränkt, Feuerwerke rar.
Am folgenden Tag balancieren wir auf dem Kraterrand bis zum Pico de la Nieve, wo wir unser vor vier Tagen angelegtes Vorratslager unversehrt vorfinden. Wasser! Frischer Proviant! Und eine Flasche Negramol, heimischer Wein aus vulkanischer Erde. Das Schlussstück ist das Herrlichste von allen: eine Gratwanderung über den einsamen Ostrand der Caldera. Schwarze Riffe, gelber Ginster, brausende Pinien im warmen Wind. Irgendwo mittendrin breiten wir unsere Schlafsäcke aus.
Dass ausgerechnet das vermeintliche Massenziel der Kanaren ein solch wildes, freies Naturerlebnis bietet! Selten habe ich mich so entrückt gefühlt und zugleich ganz geborgen. Sonntags lösen wir uns dann langsam vom Kraterring und steigen auf den Rücken der Cumbre Nueva ab. Und wieder zeigt das Naturtheater von La Palma ein packendes Schauspiel, eine Kraftprobe der Elemente. Die von Osten anrückenden Luftmassen rauschen in einem kilometerlangen Wolkenfall über diese Schwelle – und lösen sich echauffiert in nichts auf. Immer neue Bataillone führt der Passat heran, doch im Nu werden sie von der Sonne aufgerieben.
Wir tauchen wieder in die Nebelzone ein, vorbei an einer verwahrlosten Schutzhütte. Flechten hängen als Lametta von den Kiefernzweigen. Da dieser Bergsattel auch mit dem Auto erreichbar ist, begegnen wir prompt sogar Einheimischen. Entlang der Piste unternehmen ein Dutzend Tagesausflügler tastende Gehversuche. Die Deutschen geben sich dadurch zu erkennen, dass sie einander geflissentlich mit „hola“ grüßen. Weiß schleicht der Mond sich über dem Bergwald an, lautlos und unbehaglich nah. Schlimmes Wetter in der Nacht. Lawinen kalten Sturmwinds fegen den Hang herab und reißen die Wolken in Fetzen. Dann ein letzter grandioser Tag. Die Cumbre Vieja, eine nach Süden zu immer jünger werdende Vulkankette, schwingt sich nochmals bis auf fast 2.000 Meter auf. Ein Fakirweg führt über die scharfkantigen Lavabrocken, der Bimsstein klirrt unter unseren Tritten.
Wo die ersten unbeugsamen Pinien stehen, züngeln Wolken aus der Tiefe hoch. Wir laufen in sie ein wie in ein Erfrischungstuch. Durch kleine Wiesen und Weingärten geht es schließlich hinein nach Fuencaliente, dessen weiße Häuser im Nebel verschwinden. Ein tagträumendes Dorf, 700 Meter über dem Meer. Die Männer stehen an den Tresen, die Frauen warten stoisch im Auto. Wir kehren in einer Pension ein.
Bis zur Südspitze der Insel laufen wir dann noch einen halben Tag. Vorbei am hennaroten Teneguía, dem Nesthäkchen der Vulkanfamilie, 1971 zur Welt gekommen. Über wüstes Lavaland, mit Weinranken auf schwarzem Fels und wilden, subtropischen Steingärten. Der Abstieg gerät noch einmal mächtig steil. Irgendjemand hat berechnet, dass La Palma im Verhältnis zum Umfang das höchste Stück Land der Welt darstellt. Beim Leuchtturm öffnet sich eine kleine Badebucht. Ihr Lavasand, schwarz wie geschroteter Pfeffer, bereitet unseren Füßen einen weichen Empfang. Perlender Schaum bildet die Ziellinie.