: Für unser Land!?
Patriotisch und zugleich Internationalist zu sein – in den USA und Frankreich ist dies eine emanzipatorische Haltung. Nur in Deutschland gilt der Respekt vor der Zivilisierung des eigenen Landes als anstößig, gerade unter Linken. Anmerkungen zu einer Debatte
von ROBERT MISIK
Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das liebste mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihrs.
Bertolt Brecht, Kinderhymne
Vor ein paar Jahren publizierte der amerikanische Denker Richard Rorty ein schmales Büchlein mit dem Titel „Achieving Our Country“ (deutsch unter dem Titel „Stolz auf unser Land“), in dem er beklagt, die Linke habe es aufgegeben, „Partei der Hoffnung“ zu sein. Seine Kritik schlägt schließlich um in ein Plädoyer für eine patriotische Linke. Sie sollte versuchen, „die Überreste unseres Stolzes als Amerikaner zu mobilisieren“ – denn „links“ zu sein, habe in den USA bis in die Fünfzigerjahre geheißen, das Land „vorwärts bringen“ zu wollen. Erst die „neue Linke“, die „kulturelle Linke“, habe die Reformorientierung durch fundamentale Systemkritik ersetzt, die sozial bedrängten Amerikaner links liegen gelassen. Junge Intellektuelle aus Mittelschichtfamilien mit Hang zu Gedanken- und Wortspielen hätten sich nur mehr der „Politik der Differenz“, der „Identitäten“ zugewandt.
Man muss Rortys strengen Ton nicht mögen und kann dennoch manches an seiner Argumentation für bedenkenswert erachten. Seinerzeit wurde sein Plädoyer für eine patriotische Linke hierzulande leicht nervös abgewehrt: Für Amerika möge dies alles seine Berechtigung haben, für die postnationale Akronymdemokratie BeErDe habe es aber nichts zu besagen.
Doch nun ist die Debatte, etwas verfremdet, auch in Deutschland angekommen. Linksliberale Pragmatiker fragen, ob die zivilisatorische Entwicklung Deutschlands nicht eine Erfolgsstory sei, auf die man stolz sein kann, strenge „Antideutsche“ geißeln reflexartig und mit Häme diesen neuen Hang zur „Vaterlandsliebe“.
Gründe, warum die Debatte gerade jetzt anschwillt, gibt es einige, und sie haben nicht immer viel miteinander zu tun. Dass die Erben der Achtundsechzigerrevolte das Land über weite Strecken zivilisiert haben und deshalb nicht zufällig die Mitte der Gesellschaft repräsentieren, ist eine der Ursachen; dass sich nach dem 11. September 2001 die Ahnung breit macht, dass die liberale, demokratische, säkulare und westeuropäische Moderne nicht das schlechteste Gesellschaftsmodell darstellt, mag ein weiterer Grund sein. Zusammen führen sie dazu, dass ein von etwas mehr Zuneigung geprägter Blick auf das eigene Gemeinwesen geworfen wird. Doch worauf könnte sich ein linker Patriotismus wirklich stützen?
Zunächst sei daran erinnert, dass die Integration der Unterklassen bislang auf dem Boden des national verfassten Sozialstaates erfolgte, der nicht nur ein „Wir“ versus die „Anderen“ in Stellung zu bringen, sondern auch Prinzipien der Ausschließung in Prinzipien der Einschließung zu verwandeln vermochte. Der Nationalstaat war eben nicht nur der Humus für rassistische Schrecklichkeiten, sondern ebenso das Terrain des Politischen, auf dem die Regeln eines sozial gerechten Gemeinwesens ausverhandelt wurden.
Ökonomische Umverteilung, die auch Zukurzgekommenen Lebenschancen gewährt, kommt bisher auf der Ebene des Nationalstaates zum Tragen. Die „kulturelle Integration“, die die „wie immer auch imaginäre Einheit“ des Nationalstaats herstellte, so Jürgen Habermas, hatte auch zur Folge, dass sich Menschen, „obwohl sie Fremde für einander sind und bleiben, so weit für einander verantwortlich (fühlen), dass sie zu Opfern bereit sind – etwa den Wehrdienst abzuleisten oder die Last umverteilungswirksamer Steuern zu zahlen“.
Dass die Globalisierung von Kapital-, Arbeits- und Gütermärkten die Regulierungskapazitäten des Nationalstaates unterspült, ist vielfach analysiert worden, bindet die Unterprivilegierten jedoch vorerst umso mehr an dieses Terrain – fürs Erste schwimmen ihnen die Felle davon, wenn die Regulierungsinstanz Nationalstaat erodiert. Der Begriff des „Gemeinwesens“ lässt sich nur innerhalb des (National-)Staates buchstabieren, institutionalisierte Solidarität (ein Anspruch, kein Almosen) erwies sich bislang allenfalls im Nahbereich eines Gemeinwesens als tragfähig, nur hier waren Unten und Oben durch ein gemeinsames Narrativ verwoben, aus dem zumindest theoretisch eine Verpflichtung jener für diese erwuchs.
Zwar legt die Krise des national verfassten Wohlfahrtsstaates es nahe, über neue Formen transnationaler „Governance“ nachzudenken, an deren Ende durchaus ein europäisches Wohlfahrtsregime stehen könnte. Doch ist die Frage Rortys nichtsdestoweniger berechtigt, „ob wir warten können, bis sich auf übernationaler Ebene etwas tut“.
Hinzu kommt: „Wir wollen unser Land verbessern“ ist ein Satz, der sich, indem er ausgesprochen wird, schon ein Stück weit realisiert, hinter dessen vordergründigem Patriotismus eine zweite Sprechebene sichtbar wird – die einer Inbesitznahme durch die Unterprivilegierten, die damit postulieren: Dies ist auch unser Land.
Der schneidige Einwand, „unser Land“ können berechtigterweise nur jene sagen, denen die Holzbestände, der Immobilienbesitz, die Fabriken, Banken und Aktiendepots gehören, übersieht den performativen Charakter eines solchen Sprechmodus.
Wenn wir von „unserem“ Land reden, dann zuvörderst von „unseren“ Landsleuten. Sie bilden das Volk unseres Landes. Das „Volk“ tritt im Fundus politischer Rhetorik freilich in verschiedenen Aggregatzuständen auf. Politische Legitimation wird rhetorisch produziert, indem eine politische Haltung sich auf „das Volk“ bezieht, wobei eine solche Rede aber mehr ist als ein raffinierter rhetorischer Trick, mit Hilfe dessen ein „immer schon“ existierendes Volk einer politischen Absicht nutzbar gemacht wird.
Ein derart angesprochenes Volk wird durch diese Rede erst als Volk konstituiert. Das mit den Worten der US-Verfassung „We, the people“ angesprochene Volk ist ein anderes Volk als die Siedlermasse. Diese Rede markiert die Differenz zwischen dem „politischen Volk“ und der amorphen Menge. Vom Volk reden heißt, das Volk erst zu produzieren. Die Frage, welches Volk konstituiert werden soll, ist immer umkämpft.
Das Volk, das einem linken Patriotismus vorschweben könnte, ist keine Masse atomisierter Individuen, auch keine Gemeinschaft verwalteter Bürger und schon gar kein Mob verhetzter Nationalisten, sondern eine Gesellschaft ihrer Rechte bewusster Bürger. Einer solchen Rede liegt ein Begriff der aktiven Bürgerschaft zugrunde, der die in einem Gemeinwesen lebenden Einwanderer nicht aus-, sondern einschließt – als Adressaten des Aufrufes, dieses Land zu verbessern. Gleichzeitig ist ein solcher Einschluss schon der erste Akt dieser Verbesserung. Solcher Patriotismus spricht Migranten als „gewissermaßen unsere Landsleute“ an und strebt danach – frei nach Étienne Balibar –, sie zu unseren „tatsächlichen Landsleuten“ zu machen.
Aus dem imaginären Fundus der nationalen Geschichte hat die Linke in vielen Ländern immer zu schöpfen vermocht. So bezog sich die französische Linke, egal welcher Couleur, immer auf die Versprechen der revolutionären, republikanischen Geschichte ihres Landes, auf die sie stolz war. Ähnliches gilt für die US-Linke, die die egalitären Versprechen des „utopischen Amerika“ nicht bloß als „Ideologie“ abtat, sondern diese immer aufs Neue zu mobilisieren versuchte, ihrer möglichen Einlösung in einem besseren Morgen wegen.
Unbestreitbar ist natürlich, dass in manchen Gesellschaften die Bedingungen, patriotische Impulse für emanzipatorische Politik zu mobilisieren, günstiger sind als in anderen. „Die Vereinigten Staaten haben dadurch besonderes Glück, dass bei ihnen von Anfang an ihr Patriotismus den Sinn der Nationalität mit einem liberal-repräsentativen System verband“, schreibt der kanadische Theoretiker Charles Taylor. Die Einwanderungsgesellschaft der USA verlangt von den neu Hinzukommenden nicht, dass sie in eine ethnisch oder auch nur kulturell homogene Nation „passen“, dafür aber, dass „sie sich auf die politische Ideologie verpflichten, die um die abstrakten Ideale von Freiheit, Gleichheit und Republikanismus kreiste“, wie der linksliberale amerikanische Philosoph Michael Walzer formuliert.
Ähnlich liegen die Dinge in Frankreich, das die Zugehörigkeit zur Nation traditionell nicht an ethnische Kriterien bindet, wo weite Teile des politischen Spektrums seit 1789 die Nation sogar ausdrücklich mit den Unterprivilegierten identifizieren, wenngleich eine starke reaktionäre Strömung bis in jüngste Zeit die Größe Frankreichs mit einer Ablehnung der Demokratie verband.
Eine ähnliche Liaison war in Deutschland nicht beständig möglich, die Identifikation von Nation und Emanzipation blieb auf Episoden beschränkt – die Einheitsbestrebungen in der Revolution von 1848 etwa, aber auch die „patriotische“ Deutschlandpolitik der Sozialdemokraten nach 1945 von Kurt Schumacher bis Willy Brandt. Der ausschließende Charakter des deutschen Begriffs von der Nation war immer dominant. Nur ist zu fragen, was aus dieser Analyse folgt: Wenn denn hier alles nur eine Abfolge barbarischer Schrecklichkeiten war, haben die Barbaren gar so etwas wie ein historisches Recht an diesem Land? Dies wäre keine Deutung, die progressiven Ideen besonders günstig ist.
Der Stolz auf das eigene Land und das zivilisatorisch Erreichte, ein Impuls für erfolgreiches ziviles Engagement, dafür, dieses Land ein Stück gerechter zu machen? Ein patriotischer Impuls, nicht der xenophoben Abgrenzung, sondern im Gegenteil der Einbeziehung der Anderen wegen? Vielen sträuben sich beim bloßen Gedanken daran die Nackenhaare. Nicht bloß, weil Karl Marx und Friedrich Engels im am ehesten kanonischen Text der modernen Linken, dem „Kommunistischen Manifest“, den Satz flochten, „die Arbeiter haben kein Vaterland“, lassen sich emanzipatorische Politik und Patriotismus schlecht versöhnen. Ohnehin hält die Geschichte genügend Beispiele bereit für den Umschlag von Nationalstolz in Aggression, Patriotismus in Barbarei.
Und wenn der Internationalismus das Leitmotiv der Linken war, dann wurde der – um das Mindeste zu sagen – skeptische Blick auf die Leistungen des eigenen Landes die geheime Zivilreligion der jüngsten radikalen Linken; nicht nur in Deutschland, aber in Deutschland besonders. Von Wilhelminismus zu Nazigräueln, von Restauration zu Notstandsgesetzen, von Berufsverboten, bleierner Zeit zur Kohlära, wenn nicht bis zu Schilys Innen- und Fischers Kosovopolitik. Für die Anhänger einer solchen leicht miesepetrigen Deutung ist dies alles eine Melodie. Das bisschen Positive ist bestenfalls ein zufälliges und unbeabsichtigtes Produkt des Negativen.
Hier wird jeder Partikularismus als Gegenteil eines antiidentitären Universalismus interpretiert. Doch erlauben wir uns für einen Augenblick zuzugestehen, dass in der Politik Motive und Gedankenbilder sozusagen nie in vollkommener Reinkultur auftreten. Patriotismus, der Stolz auf die Leistungen – oder gar nur ein Gefühl der Zugehörigkeit zu den Leuten – meines Landes sind partikularistische Werte; das Streben nach Gleichheit aller Menschen etwa oder das – was etwas Ähnliches, aber nicht immer dasselbe meint – nach Gerechtigkeit ist ein universeller Wert.
Der Kampf der frühen Arbeiterbewegung um soziale Reformen war in diesem Sinn nicht begrenzt auf ein beschränktes Territorium. Das ändert aber nichts daran, dass, je erfolgreicher dieser Kampf geführt wurde, er auch zum Resultat hatte, dass die – von der Bürgerschaft de facto oder gar de jure ausgeschlossenen – „niedrigen Leute“ damit auch die Anerkennung als gleichwertige Bürger ihres jeweiligen Nationalstaates mit erkämpften. Worauf sie häufig wiederum ein Gefühl des Stolzes auf die Leistungen der Arbeiterbewegung ihres Landes beschlich. Es ergibt sich somit, dass die Durchsetzung eines „universalistischen Wertes“ im Ergebnis einem „partikularistischen Wert“ förderlich sein kann – eine, wenn man so will, paradoxe Folge.
Der Umstand, dass der Patriotismus zu unseren wie zu allen Zeiten für viele Übel verantwortlich war und ist, ändert jedenfalls nichts daran, dass der Stolz auf die Leistungen einer Gemeinschaft zu einem der stärksten Motive und Impulse auch für positives politisches Handeln werden kann; genauso, wie umgekehrt ein Gefühl der Scham für Fehlentwicklungen des eigenen Gemeinwesens eine mächtige Antriebsfeder für Protest und, in der Folge, für Veränderungen werden kann.
Warum, fragt der kanadische Multikulturalismusforscher Charles Taylor deswegen, reagieren in einem bestimmten Land viele Menschen mit Entrüstung, wenn die Grundsätze der Demokratie und der Menschenrechte verletzt werden? Grundsätzliche Abscheu gegen Unrecht „würde an sich jedoch nicht zu der Reaktion eines Amerikaners führen, die gegenüber Nixons Vergehen stärker ist als gegenüber denen von Pinochet oder Enver Hoxha“.
Den Impuls, der diese Entrüstung erzeugt, nennt Taylor „eine Art patriotischer Identifikation“. Selbst wenn mich die Einschränkung der Freiheit eines jeden bekümmert, so bringt mich ein Anschlag auf die Freiheit in meinem Gemeinwesen in der Regel stärker in Rage.
Es mag ein berechtigter Einwand sein, dass Solidarität, ausschließlich im Nahbereich praktiziert, ein prekäres Ding ist – doch Solidarität, die nicht einmal im Nahbereich trägt, ist bestimmt um nichts besser.
Es gibt also, neben der Skepsis gegenüber nationalistischen Aufwallungen und vaterländischen Leidenschaften, ebenso gute Gründe für eine gewisse selbstbewusste Identifikation mit dem, was in sozialer, demokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht erreicht wurde. Es waren eben die emanzipatorischen Kräfte, die dies denen der Beharrung abgerungen haben (wenn auch bisweilen im Bündnis mit einem objektiven „Zug der Zeit“).
Patriotische Identifikation kann gewiss in unterschiedlichen Aggregatzuständen auftreten – als Stolz, als Scham, oft als Melange beider. Ohne das, was Bruno Kreisky, der große Modernisierer der österreichischen Sozialdemokratie, den „sozialen Patriotismus“ genannt hat, ist ein inklusiver Wohlfahrtsstaat wohl nicht einmal vorstellbar.
ROBERT MISIK, 38, lebt als Autor in Wien und schreibt regelmäßig für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: „Marx für Eilige“, Aufbau-Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, 7,95 Euro