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Archiv-Artikel

Das gute Leben günstig

Aristoteles im Schnäppchen-Angebot: Die Lebensmittelmärkte von Kaiser’s/Tengelmann versprechen „das gute Leben – günstig“. Der Slogan offenbart: Werbetexter können subversiv sein

VON CHRISTIAN SEMLER

„Das simple Leben lebe, wer da mag. / Ich habe (unter uns) genug davon. Kein Vögelchen von hier bis Babylon / vertrüge diese Kost nur einen Tag.“ So Mackie Messer in Brechts Dreigroschenoper und so auch ingrimmig mancher Kollege der taz, nachdem er zum tausendsten Mal seine Mittagspause im Vertragslokal mit Pasta und Tomatensauce verdorben hat.

Und das, wo doch das Gute so nahe ist, um die Ecke, dazu noch flächendeckend in Berlin präsent. Vorbei geht’s am Umsonst-Stand der Berliner Zeitung und an zwei desinteressierten jugendlichen Schnorrern plus Hund, schon öffnet sich die gläserne Pforte und Kaiser’s/Tengelmanns Reich umfängt uns mit dem Wahlspruch „das gute Leben – günstig“.

Na wenn schon, könnten wir, die der Reklame Überdrüssigen, antworten und vielleicht noch einen weiteren Vierzeiler hinzufügen, einen von Kurt Tucholsky diesmal, mit dem er in den Zwanzigerjahren auf ein Preisausschreiben der Firma Tengelmann reagierte:

„Ach lieber, guter Tengelmann / Was geht mich all Dein Kaffee an / Und Deine Teeplantage / Ach leck … … … …“

Die plakatierten Sonderangebote, die niedlichen Bananen und Tomaten, die uns heute selbstlos und mit aufmunterndem Grinsen zum Verzehr auffordern, sie lassen uns kalt, während uns die Verheißung vom guten Leben merkwürdig anrührt.

Genau dies zu erreichen war das Ziel von Mirko Vasata, dessen Werbeagentur Vasata & Schröder von Kaiser’s mit der Erfindung eines verkaufsfördernden Slogans beauftragt worden war. Scharfsinnig hatte Vasata festgestellt, dass ein hauptsächlich aus Frauen bestehendes Einkaufspublikum auf keinen Fall mit aggressiven und dabei noch höchst umstrittenen Parolen traktiert werden dürfe. „Geiz ist geil“ beispielsweise zielte auf die Heerschar harter Männer, das vorwiegende Einkaufspublikum einer Firma, die nicht umsonst den Namen des gewalttätigen und dunklen Gottes Saturn trägt. Geiz zählt zudem auch im nachchristlichen Verständnis zu den Kardinaluntugenden. Ganz abgesehen davon, dass Sparpropaganda in Zeiten der Stagnation für die Gesamtheit der Unternehmer nichts anderes bedeutet als sich ins eigene Fleisch zu schneiden.

Als nun Vasata die Idee vom „guten Leben“ aufgriff, ließ er sich von der Überlegung leiten, wie auf sanfte Weise die „Konsumzurückhaltung“ des Kaiser’s/Tengelmann-Publikums überwunden werden könne, und stellte sich die Frage: Zu welchem Ziel konsumieren wir eigentlich?

Einfach, um einem dringenden, wiederkehrenden Bedürfnis abzuhelfen? Nein! Vasata antwortet: Um des guten Lebens willen. Er behauptet nicht, dass „das gute Leben“ identisch sei mit gutem Essen und Trinken. Aber beides gehöre dazu. Freilich in Maßen, genau die Mitte haltend zwischen zwei gleich gefährlichen Lastern, dem Geiz und der Verschwendung. Die Produkte aber, die Kaiser’s Vasata zufolge anbieten soll, können nicht billig sein, denn das würde der Gesundheit schaden, die zu erhalten schlicht die Voraussetzung des guten Lebens bildet. Aber „günstig“ müssen sie sein, womit nicht nur der Preisvergleich angezielt ist. Denn in „günstig“ schwingt die Gunst der Götter mit, die auf denen ruht, die das gute Leben führen.

Spätestens jetzt wird klar: Wir wechseln aus dem Reich der Warenästhetik in das der Ethik und Vasata ist unser kundiger Fährmann. Wie dies?

Das „gute Leben“ ist ein Zentralbegriff, den Aristoteles in seiner „Politik“ wie in der zwecks Erziehung seines Sohnes verfassten „Nikomachischen Ethik“ entwickelte. Die Basis seiner Überlegungen bildet ein System der Bedürfnisse, das uns allen eignet. Wir alle wollen essen, trinken, uns kleiden, spielen, unsere Sexualität ausleben. Wir alle suchen, obwohl wir ihrer ständig überdrüssig sind, nach Gemeinschaft, wollen mit-leiden, uns mit-freuen. Und wir wollen unser Leben planvoll gestalten, wozu uns die praktische Vernunft befähigt. Sie allein ist es, die uns dazu bringt, die Frage nach dem guten Leben zu stellen und sie – soweit möglich – auch in unserer Lebensführung zu beantworten. Denn wenn es keine unseren Bedürfnissen korrespondierenden Fähigkeiten gäbe, die wir potenziell in der Lage sind zu entwickeln, wäre es um unser Mensch-Sein schlecht bestellt.

Für Aristoteles ist das gute Leben eng verbunden mit der Muße. Muße ist keineswegs Nichts-Tun. Wir sind nach ihm aufgerufen, die Muße in Würde zu verbringen, an unseren Tugenden zu feilen, die sich anschließend im Alltagsleben bewähren sollen. Hier gilt es, unter Vermeidung der Extreme, stets das rechte Maß zu finden. Für Aristoteles ist ein erfolgreich gestaltetes gutes Leben unvereinbar mit dem Schicksal täglicher Plackerei.

Um sich den vornehmsten tugendhaften Tätigkeiten, dem Philosophieren und dem Dienst an der Polis, widmen zu können, bedarf es der Sklaven und der Frauen, die sich um den Haushalt (griechisch: oikos) kümmern. Wenig erfreulich, aber zur Zeit der athenischen Polis mit ihrer demokratischen Fassade wenigstens ein ehrliches Eingeständnis: Muße setzte Sklavenarbeit voraus.

Karl Marx, ein lebenslanger, linker Aristoteliker, war hier weniger streng. Da er den Fortschritt der Produktivkräfte in Rechnung stellte, konnte er Muße für alle als realistisches Projekt ansehen. Auch für ihn siedelte das Reich der Freiheit jenseits der (vernünftig zu organisierenden) Werkeltagsarbeit. Aber neben Philosophieren und anregender Lektüre waren auch Jagen, Fischen, Musizieren und Spielen angesagt.

Praktizieren wir eigentlich Muße, wenn wir in Kaiser’s/Tengelmanns Supermarkt herumschlendern, stets bereit, dem Versprechen des guten Lebens unsere schwachen Finanzressourcen zu opfern? Für Aristoteles wäre das eine lächerliche Frage gewesen. In Ruhe und bedachtsam, umrahmt von interessanten Erörterungen und ab und zu von einem Schluck Rotwein unterbrochen, sich über einen Rehbraten herzumachen, mag gerade noch den Anforderungen der Muße genügen. Aber Einkaufen? Treten wir bei Tengelmann etwa ins Reich der Wahlfreiheit ein, wo die schönen, wahren und guten Produkte unserer begründeten Auswahl harren? Keineswegs. Wir leiden nicht nur an mangelnder Kaufkraft, sondern ebenso an dem Widerspruch zwischen dem Versprechen vom guten Leben und dem Zustand beziehungsweise der Präsentation dessen, was uns oft genug hier erwartet. Und ist es nach den Lehren der Alten nicht ratsam, unnötiges Leid zu vermeiden?

Und doch eröffnet dieser Widerspruch zwischen Vasatas Slogan und der bitteren Realität den Raum für philosophische, also der Muße angemessene Grübeleien. Die Vorstellung vom guten Leben zu Beginn des Jahres 2004 unterscheidet sich beträchtlich von dem, was unsere Eltern und Großeltern jemals zu erreichen hofften. Bedürfnisse sind nicht konstant, sie folgen der Entwicklung der Produktivkräfte, dem gesellschaftlich produzierten, objektiv zur Verfügung stehenden Reichtum.

Der junge Marx pointierte den Ausgangspunkt dieser Entwicklung folgendermaßen: „Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise, ebenso könnte sie in ihrer rohesten Form vorliegen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungstätigkeit von der tierischen unterscheidet.“ Mittlerweile haben wir es zu einem beträchtlichen Unterscheidungsvermögen gebracht. Aber diesen unseren verfeinerten Bedürfnissen stehen keine Realisierungschancen gegenüber. Und wie bei Kaiser’s/Tengelmann, so in der gesamten Gesellschaft.

Wir sehen schon, dass Vasata sich als subversiver Denker erweist. Denn das Versprechen des guten Lebens enthält einen Rückbezug auf objektive, gesellschaftlich vorgegebene Standards. Es misst das jeweils Erreichte an dem, was zu erreichen wäre, wenn es wirklich darum ginge, die in den Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt angelegten Fähigkeiten zu entwickeln.

Wer, wie Vasata, Aristoteles folgt, der kann sich nicht mit Geldtransfers für konsumschwache Bürger begnügen und dann glauben, der Gerechtigkeit sei Genüge getan. Das gute Leben umgreift alle Lebensbereiche. Und gehaltvolle Muße, nicht die erzwungene arbeits-lose Zeit, wäre heute für alle möglich.

Das gute Leben – günstig.