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Archiv-Artikel

Flipper ist ganz schön primitiv

VON WOLFGANG LÖHR

Für Feinschmecker sind Muscheln, Schnecken oder Tintenfische meist nur dann etwas Besonderes, wenn sie schmackhaft zubereitet serviert werden. Kaum einer wird beim Dinieren wohl auf den Gedanken kommen, dass auch diese Weichtiere ein eigenes Persönlichkeitsprofil besitzen könnten.

Für Verhaltensforscher waren diese Tiere lange Zeit uninteressant. Sie arbeiteten lieber mit Graugänsen oder Schimpansen. Das ist sicherlich auch einer der Gründe, warum erst sehr spät Ethnologen und Kognitionsforscher auf die knochen- und grätenfreien Wassertiere aufmerksam wurden. Verblüfft stellten sie Anfang der 1990er-Jahre fest, dass auch Weichtiere wie die zu der Gruppe der Kopffüßler gehörenden Kraken in der Lage sind, von ihren Artgenossen zu lernen. An der Zoologischen Station von Neapel durchgeführte Experimente zeigten nicht nur, dass die achtarmigen Kopffüßler schnell lernen können, ob hinter einem roten oder weißen Ball Futter zu finden ist. Ein in einem Nachbaraquarium gehaltener Artgenosse, der das Geschehen beobachtete, wusste gar sofort, wo er suchen musste.

Eine kleine Sensation war auch, als dann Forscher eines Unterwasserlabors in der Karibik entdeckten, dass die Weichtiere mit einem ausgeprägten Spieltrieb ausgestattet sind. Eine Eigenschaft, die bisher nur „höheren“ Wirbeltieren zugesprochen wurde.

Inzwischen ist auch bekannt, dass Kraken individuell sehr unterschiedlich auf Stresssituationen reagieren: Während einige schnell aggressiv werden, bleiben andere erstaunlich ruhig. Auch Panikreaktionen wurden beobachtet. Die kanadische Neuropsychologin Jennifer Mather und der Biologe Roland Anderson aus Seattle sind sich daher sicher: Auch Tintenfische haben ein eigenes Persönlichkeitsprofil.

Mythos Fisch

Ein gängiges Argument von Hobbyanglern lautet: Fische spüren keinen Schmerz. Der tief im Fleisch sitzende Angelhaken setze die Tiere zwar unter Stress, aber Schmerzen empfinden, wie zum Beispiel Säugetiere, könnten Fische nicht, heißt es – ihr eigenes Tun beschwichtigend – bei den Anglerverbänden.

Dabei ist schon länger bekannt, dass Fische bei Verletzungen opiumähnliche, schmerzlindernde Substanzen – Endomorphine – freisetzen. Neuere, an der Universität Edinburgh durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass Fische an Kopf und Maul mit Schmerzrezeptoren ausgestattet sind, die auf Reize reagieren. Spritzten die Forscher den Fischen Bienengift oder Essigsäure in die Lippen, reagierten die Tiere mit typischen Schmerzreaktionen: Einige fielen durch hektische Schwimmbewegungen auf. Andere wiederum rieben sich das Maul an den Glaswänden des Aquariums. Auch begannen die mit der Säure behandelten Fische im Vergleich zu einer Kontrollgruppe erst 90 Minuten später wieder mit dem Fressen. Ähnlich reagierten die Fische, nachdem sie mit heißen Gegenständen in Kontakt gekommen waren. Für den Edinburgher Forschungsleiter Lynne Sneddon sind damit alle „Kriterien für tierischen Schmerz erfüllt“.

Die Konsequenz wäre eigentlich, dass zumindest das Hobbyangeln untersagt wird. So weit will das Verbraucherschutzministerium in Berlin jedoch nicht gehen. Im Tierschutzbericht 2003 heißt es dazu: „Die Frage, ob und in welchem Umfang Fische Schmerzen haben, ist noch nicht abschließend geklärt.“

Mythos Delfin

Delfine sind die Wundertiere des Meeres: Sie sind lernfähig, besitzen ein enormes Gedächtnis und verfügen über ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Bei alldem sind sie auch noch dem Menschen freundlich gesinnt, haben sie doch schon so manchem Schiffbrüchigen das Leben gerettet. Beigetragen zu dem Bild vom Delfin als „intelligentestem Tier“, neben den Schimpansen, haben auch die in fast jedem Delfinarium zu bestaunenden Dressurleistungen.

Doch in den letzten Jahren bekommt der Mythos Delfin zunehmend Risse. Flipper ist bei weitem nicht so intelligent, wie gemeinhin behauptet wird. „Delfine sind geistig eher minderbemittelt“, hieß es sogar in einer von 3sat ausgestrahlten Sendung. Die zu den Zahnwalen gehörenden Delfine haben zwar ein ungewöhnlich großes Gehirn – was die Vermutung untermauerte, sie müssten besonders intelligent sein. Doch neuere Untersuchungen zeigen, dass die Hirnstruktur beim Delfin im Vergleich zu anderen Säugetieren überraschend primitiv aufgebaut ist.

So fehlt ihnen eine wichtige Schicht der Hirnrinde, die vor allem für die Verbindung zu den tiefer liegenden Hirnstrukturen verantwortlich ist. Auch ist die Hirnrinde nur dünn und locker aufgebaut. Letztendlich hat das große, gefurchte Delfingehirn sogar – relativ gesehen – weniger Nervenzellen als das einer Ratte. Auch die sagenumwobenen Lernleistungen der Delfine sind durchaus mit denen von Ratten oder Tauben vergleichbar.

Doch auch wenn der immer lächelnde Delfin – das kommt übrigens von den nach oben gewachsenen Mundwinkeln und hat nichts mit einer freundlichen Gesinnung zu tun – eines Tages mal nichts anderes als ein normales Tier sein sollte, ist das noch lange kein Grund, dass der Mensch ihm den Garaus macht.

Mythos Schimpanse

Unser Bild von unserem nächsten Verwandten, dem Schimpansen, ist in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die populären Bücher der Primatenforscherin Jane Goodall geprägt worden. Sie war in den 1960er-Jahren die Erste, die erkannte, dass Schimpansen Gefühle haben, intelligent sind und eine individuelle Persönlichkeit besitzen. Mittlerweile erkennen auch frühere Zweifler an, dass Schimpansen, wie einige andere Affenarten auch, nicht nur den Gebrauch von Werkzeugen gelernt haben, sondern zudem ein ausgeprägtes und sehr differenziertes Sozialleben zeigen: Intrigen, Freundschaften, Eifersucht, Gerechtigkeitssinn, selbst Mord und Totschlag sind ihnen nicht unbekannt. Alles Eigenschaften, von denen man einst dachte, sie seien Menschen vorbehalten.

Heute sprechen Forscher einigen Schimpansenpopulationen sogar zu, dass sie eine eigene Kultur besitzen: Sie geben erlernte Fähigkeiten an die nächste Generation weiter, zum Beispiel, mit welchem Schlagwerkzeug verschiedene Nüsse am besten zu knacken sind. Beeindruckend ist auch ihr Sprachvermögen. Koko, eine Versuchsäffin der U.S. Gorilla Foundation, soll im Laufe ihres Lebens über 1.000 Wörter gelernt haben, die sie per Zeichensprache deuten konnte. Eine Grenze jedoch konnten selbst die begabtesten Schimpansen nicht überschreiten: Bei komplexen Sätzen waren sie alle überfordert. Ein Verständnis für Synthax und Semantik hat sich im Unterschied zum Menschen bei den Menschenaffen während der Evolution nicht herausbilden können.

Mythos Primaten

Geht es nach den Gensequenzierern, dann muss der Stammbaum der Primaten umgeschrieben werden: Der Mensch hat einen Bruder verloren. Nur noch die beiden Schimpansenarten Pan troglodytes (Schimpanse) und Pan paniscus (Bonobo) sollen zu den engsten Verwandten des Menschen zählen, schlägt der US-Forscher Morris Goodman von der Wayne University in Detroit vor.

Bislang gehörte noch der Gorilla gorilla dazu, der mit den beiden Schimpansenarten eine gemeinsame Gruppe bildete. Goodman begründet den Ausschluss des Gorillas mit den Ergebnissen aus einem Vergleich verschiedener Gensequenzen. Insgesamt 97 menschliche Gene verglich der Forscher mit den entsprechenden Gensequenzen des Schimpansen und des Gorillas. Er fand eine 98,4-prozentige Übereinstimmung zwischen den Schimpansenarten und dem Menschen. Beim Gorilla waren die Abweichungen weitaus größer. Seine Schlussfolgerung: Die Stammbäume des Menschen und der Schimpansen trennten sich offenbar erst vor fünf bis sechs Millionen Jahren. Die Stammlinie des Gorillas entfernte sich dagegen bereits ein bis zwei Millionen Jahre zuvor von den gemeinsamen Vorfahren. Noch muss die Goodman’sche These vorsichtig bewertet werden. Dennoch wissen die Genetiker relativ wenig über die Regulierung der Gene. Und es gibt Hinweise, dass hier eines der großen Geheimnisse verborgen ist, das erklären könnte, warum und vielleicht auch wann die Vorfahren von Mensch und Menschenaffe verschiedene Wege gingen.

Wolfgang Löhr, 48, ist Wissenschaftsredakteur der taz