: Pharao mit menschlichem Gesicht
Am Moskauer Laboratorium für anthropologische Rekonstruktion bekommen Leichen, Pharaonen und Skelette ihr ursprüngliches Gesicht zurück. Auch die Polizei nimmt bei ihren Ermittlungen gern die Künste der Rekonstrukteure in Anspruch
AUS MOSKAU BARBARA KERNECK
Die Treppe vom Hof führt zu einer Kellerwohnung im Moskauer Universitätsviertel. Als wir uns an die Beleuchtung im Inneren gewöhnt haben, blicken uns hoch von Regalen herab Köpfe an: Iwan der Schreckliche in Gips. Gleich daneben Timur der Eroberer, alias Tamerlan, um die Ecke Friedrich Schiller. Willkommen im Laboratoriums für anthropologische Rekonstruktion des Instituts für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften!
Weltweit populär wurde das Institut Anfang der 80er-Jahre durch den auch verfilmten Bestseller „Gorki Park“ des US-Autors Martin Cruz-Smith. Der Held des Thrillers, Chefinspektor Arkadi Renko, bestellt sich hier das Gesicht einer jungen Unbekannten, die er als völlig entstellte Leiche gefunden hat. Tatjana Sergejewna Balujewa, heute die Leiterin, hält die Darstellung ihres Instituts in dem Roman für „ganz abscheulich“. Aber stolz bestätigt sie: „Mit unseren Arbeiten für die Kriminalistik sind wir aller Welt voraus.“ Nirgends so authentisch wie hier könne man das Antlitz eines Verstorbenen rekonstruieren, gleich ob er vor zehn oder zehntausend Jahren gelebt habe, meint sie. Voraussetzung dafür sei allerdings das nötige Material: der Schädel der Person oder Roentgen- bzw. Ultraschallaufnahmen davon.
Für unschlagbar hält auch der britische Ägyptologe Howard Jones das Moskauer Team. Ende vergangenen Jahres schickte er Röntgenbilder der Mumienschädel mehrerer ägypischer Pharaonen und Höflinge her, die im British Museum aufbewahrt werden. Die infolge dieses Auftrages hier entstandenen Graphiken räumen mit althergebrachen Vorstellungen auf.
Erstens sind nicht alle Pharaonen im British Museum die, die sie scheinen. Der Mann, den man immer für den berühmten Ramses II. gehalten hatte (Regierungszeit von 1279 bis 1213 vor unserer Zeitrechnung), erreichte nicht das biblische Alter dieses mächtigen Herrschers, sondern starb bereits mit etwa 60 Jahren. Dies verrät der auf dem Röntgenbild gut erkennbare Abnutzungsgrad seiner Zähne. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der bisher fälschlich zugeordneten Mumie in Wirklichkeit um Ramses I. handelt, den Onkel von Ramses II. Er herrschte nur von 1292 bis 1290. Bei alledem kommen die Zeittafeln der Dynastien ins Wanken. Das verblüffendste Resulat: Die zu den untersuchten Pharaonenschädeln gehörenden Gesichter ähneln den zu Lebzeiten von ihnen angefertigten Statuen oder Fresken kaum.
Die Pharaonen Merentpah und Amenophis III., von Tatjana Balujewa im Profil und en face gezeichnet, sehen aus wie Geschäftsleute aus jedem beliebigen modernen Mittelmeerland, leicht griesgrämige Familienväter mit scharfen Nasolabialfalten, die der Volksmund für Anzeichen eines Magenleidens hält. Keine Spur von großen Mandelaugen und dem zarten platten Näschen, die zum Beispiel den Fresken von Amenophis III. so ein träumerisches Aussehen verleihen.
„Die Darstellungen von Pharaonen war ebenso kanonisiert wie unsere Heiligenikonen“, meint Balujewa: „Wir können die ägyptische Urbevölkerung nicht rekonstruieren. Aber wir vermuten, dass die Vertreter der ersten Dynastien viel dunkelhäutiger waren als die bei uns nachgebildeten Pharaonen aus dem Neuen Reich. Dazwischen hatten die Herrscherhäuser jahrhundertelang Kriege in Kleinasien und Mesopotamien geführt und sich mit den Eliten jener Länder verschwägert. Südlich von Ägypten gibt es noch heute eine sehr dunkelhäutige Bevölkerung mit großen Mandelaugen und platten Näschen.“
Dass sich das weiche Gesichtsgewebe wie ein Strumpf über seine Knochengrundlage stülpt, postulierte als erster der russische Anthropologe Michai Gerassimow in den 30er-Jahren. Sein Laboratorium konnte er erst 1950 gründen. Er zog sich SchülerInnen heran, welche die von ihm entwickelte Rekonstruktionsmethode nach seinem Tode weiterführten. Tatjana Sergejewna, selbst in den 50ern, verkörpert im Institut bereits die 3. Generation. Ihr Vater kehrte 1956, während Chruschtschows Tauwetter, als Sohn in Belgien lebender russischer Emigranten in die Heimat seiner Eltern zurück.
Nach Gerassimows Verfahren wird heute in vielen Ländern der Erde gearbeitet. Doch die Messungen, aus denen man die dort verallgemeinerten Daten gewonnen hat, wurden überall an Verstorbenen vorgenommen. Deren Morphologie unterscheidet sich schon sehr bald von der Lebender. Den entscheidenden Schub in Richtung Originaltreue gewann das Moskauer Laboratorium während einer Reihe von Expeditionen durch die Sowjetunion 1988 bis 1992. Sie führten von den Tschuktschen auf Kamtschatka über die Burjäten bis hin zu den Litauern. Über 4.000 lebende Personen aus fast allen Sowjetvölkern und -ethnien hielten ihre Schädel für Ultraschall-Aufnahmen hin und ließen die EthnologInnenhände jeweils über 50 Abstände zwischen diversen Knochenpunkten im eigenen Gesicht abtasten. Ziel war nicht die Erforschung der verschiedenen Populationen, sondern die Vervollkommnung der Rekonstruktionsmethode.
„Wir erhielten dadurch statistische Mittelwerte für die Beziehungen zwischen den weichen Gesichtsgeweben und dem Schädel. Und siehe da“, freut sich Balujewa, „die so verfeinerte Rekonstruktionsmethode führt bei allen Ex-Sowjetvölkern zu gleich guten Ergebnissen.“
„Damals haben wir auch Gewissheit darüber gewonnen“, erklärt sie, „dass selbst die allerindividuellsten Gesichtszüge einer Person in letzter Instanz durch den Knochenbau vorbestimmt sind.“ Gern würde die neugierige Ethnologin selbst nachprüfen, ob ihre Methode auch bei Afrikanern oder australischen Ureinwohnern so hinhaut. Aber bei den spärlichen Mitteln, die die Akademie der Wissenschaften heute für ihr Institut ausgibt, ist das undenkbar. Trotzdem ist Balujewa guten Mutes, was die Perspektiven ihrer Arbeit betrifft.
„Da ist einmal der museale Aspekt“, meint sie: „Es ist doch hübsch, wenn man ein Museumsdorf besucht und dort dessen einstigen Bewohnern ins Gesicht blicken kann.“ Und dann bliebe noch immer die Verbrechensaufklärung. „Wenn es um die Identifizierung von Leichnamen ohne erkennbare Züge geht, so galten unsere Rekonstruktionen früher in unserem Lande als ein Hilfsmittel unter anderen. Heute sind sie das Hauptmittel.“ Die Mitarbeiter des Instituts fertigen für die Kriminalpolizei verbale Steckbriefe und Phantomzeichnungen der Gesichter der aufgefundenen Toten. Die werden dann publiziert. Nicht nur gewinnen viele Familien auf solche Weise Klarheit über den Verbleib von Angehörigen, auch Gerassimows Methode wird dank dieser Praxis weiter vervollkommnet. „Wir haben da noch eine kleine Unklarheit im Bereich der Augen“, gesteht Tatjana Sergejewna und fügt entschuldigend hinzu: „Nur was deren Abstand voneinander betrifft.“
Und hat sie schon einmal einen Blindversuch gemacht und sich erboten, das Gesicht einer ihr unbekannen lebenden Person zu rekonstruieren? „Oft. Erst neulich hat sich das bei unserer Teilnahme an einer Fernseh-Magazinsendung namens Scanner ergeben“, berichtet Tatjana Sergejewna. „Vorher brachte die Moderatorin mir Röntgenaufnahmen eines Schädels und sagte: ‚Versuchen Sie’s doch mal mit dem.‘ Während der Arbeit fiel mir schon auf, dass das entstehende Frauengesicht große Ähnlichkeit mit der Moderaorin selbst hatte. Aber es gab da Abweichungen, an denen konnte ich nichts ändern.“ Tatsächlich hatte die TV-Moderatorin sich selbst röntgen lassen und erzählte dann, was die Anthropologen nicht wissen konnten: Vor einigen Jahren hatte sie durch eine kosmetische Operation die Höhe ihrer Brauen verändern und die Oberlippe aufpolstern lassen.