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Archiv-Artikel

„Wie der Ku-Klux-Klan in Texas“

Das Öl und der Wahhabismus: Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Bernard Lewis über die Assassinen des Mittelalters und die Selbstmordattentäter von heute, die Demokratisierung der arabischen Welt und die Wurzeln des radikalen Islams

Interview DANIEL BAX

Herr Lewis, Sie sind ein viel gelesener Mann. Nach dem 11. September wurde Ihr Buch über „Die Assassinen“ ein Bestseller. Offenbar suchten viele Menschen darin nach einer Antwort auf die Ereignisse.

Bernard Lewis: Dann, fürchte ich, müssen sie enttäuscht gewesen sein.

Viele zogen Parallelen zwischen dieser radikalen Sekte im Mittelalter und den islamistischen Selbstmordattentätern von heute. Sie nicht?

Nein. Zum einen zielten die Assassinen stets auf ausgewählte Individuen. Sie haben große Vorsicht darauf verwandt, keine anderen in Mitleidenschaft zu ziehen. Es gab keine wahllosen Massaker. Zum anderen haben sie niemals bewusst den Freitod gesucht, denn Selbstmord ist eine Sünde im Islam. Sie setzten ihr Leben aufs Spiel. Aber sie starben nicht von eigener Hand. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Was ist denn islamisch am heutigen islamischen Terrorismus?

Die so genannten islamischen Terroristen verstoßen gegen ihre eigene Religion. Diese absolute Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern hat keine Wurzeln im Islam. Im Gegenteil, wenn Sie sich die klassischen islamischen Texte anschauen, die sich mit dem Dschihad beschäftigen: Dort wird ausdrücklich betont, dass man es vermeiden sollte, die Zivilbevölkerung zu verletzen. Zum anderen indem sie den Freitod wählen. Das ist eine Todsünde im Islam.

Die Attentäter versprechen sich aber den Eingang ins Paradies?

Nun: Die islamischen Quellen besagen, dass die Strafe für den Selbstmord darin besteht, in aller Ewigkeit den Akt des Selbstmords zu wiederholen. Wenn ein Mensch sich erhängt, so wird er alle Ewigkeit damit verbringen zu würgen. Wenn ein Mensch sich vergiftet, so wird er alle Ewigkeit mit Bauchschmerzen verbringen. Und wenn er sich eine Bombe um den Bauch bindet, dann besteht die Strafe darin, sich in aller Ewigkeit in die Luft zu sprengen.

Trotz allem bezeichnen sich diese Terroristen als islamisch.

Sie behaupten, im Namen des Islam zu handeln. Und offensichtlich genießen sie dabei eine Menge Unterstützung.

Worauf führen Sie das zurück?

Man muss verstehen, was im 20. Jahrhundert aus der tödlichen Kombination von zwei Dingen hervorgegangen ist: Dem Wahhabismus und dem Öl. Der Wahhabismus geht zurück auf einen gewissen Mohammed Ibn Abdel Wahhab, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der nordöstlichen Ecke der arabischen Halbinsel lebte. Das war eine abgelegene Wüstenregion, in der Stämme herrschten, und Ibn Abdel Wahhab lehrte dort eine neue Version des Islam. Das war im Grunde eine sehr fanatische, intolerante Auslegung, weit entfernt von dem, was man den islamischen Mainstream nennen könnte. Sein Standpunkt war, dass die islamische Welt korrumpiert worden sei. Die Lösung sah er in einer Rückkehr zu dem, was er den „wahren Islam“ nannte. Er bekehrte die Scheichs seiner Region. Aber das wäre ohne Bedeutung geblieben, wenn es nicht zur Gründung des saudischen Königreichs gekommen wäre und zur Entdeckung des Öls. Durch ihre Kontrolle über die arabische Halbinsel und die heiligen Stätten erlangte diese marginale Strömung ein enormes Prestige. Und sie kam zu grenzenlosem Reichtum. All das hat dem wahhabitischen Islam eine völlig unverhältnismäßige Bedeutung verschafft.

Meinem amerikanischen Publikum gebe ich gerne folgendes Beispiel: Stellen Sie sich vor, der Ku-Klux-Klan hätte die Kontrolle erlangt über den Bundesstaat Texas. Und sie hätten die gesamten Einnahmen aus dem Ölgeschäft zur Verfügung, um weltweit ein Netzwerk von Schulen und Colleges zu etablieren, um ihre Interpretation des Christentums zu verbreiten. Dann hätte man ungefähr eine Vorstellung von dem, was in der islamischen Welt passiert ist.

Ist es so dramatisch?

Was dort passiert ist, ist noch viel schlimmer. Denn die meisten christlichen Länder besitzen gute Schulen, viele muslimische Länder dagegen nicht. Dort stellen die saudischen Schulen oft die einzige Form von Bildungseinrichtungen. Problematisch ist es aber auch in nichtmuslimischen Ländern. Es ist ja nur verständlich, dass ein gläubiger Muslim, der in Amerika oder Frankreich lebt, seinen Kindern eine religiöse Erziehung angedeihen lassen möchte. Wohin also wendet er sich in einem Land, in dem der Staat sich nicht darum schert? In diese Lücke springen die saudischen Stiftungen. Und sie sind überall: Sie sind in Kaschmir, in Bosnien, in Tschetschenien. Und in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion sind sie auch sehr aktiv.

Einst war der Islam die jüngste und modernste Weltreligion. Ist er heute ein Hemmschuh für die Modernisierung?

Wenn man über den Islam spricht, redet man über mehr als 14 Jahrhunderte und eine riesige Region. Und man spricht über 1,3 Milliarden Menschen, eine große Vielfalt. Da ist es sehr schwierig, Verallgemeinerungen zu treffen, die nicht anfechtbar sind.

Der Islam ist sehr viel politischer als das Christentum. Sehen Sie: Jesus wurde ans Kreuz geschlagen, und seine Anhänger waren die ersten drei Jahrhunderte lang eine verfolgte Minderheit. Moses war es versagt, das gelobte Land zu betreten. Mohammed dagegen eroberte sein gelobtes Land und gründete dort einen Staat. Man hat im Islam also den wohl einzigartigen Fall eines Religionsgründers, der auch zum Staatsoberhaupt wurde. Und er hat das getan, was Staatsoberhäupter eben so tun: Er hat Steuern eingetrieben und Gesetze erlassen. Er führte Krieg und schloss Frieden. Politische Fragen sind also von Anfang an in den Islam eingeschrieben gewesen. Das kann von Vorteil wie von Nachteil sein.

Islamische Begriffe wie „Dschihad“ befremden ja viele westliche Betrachter. Dass sich der Koran überhaupt mit Fragen der Kriegführung befasst, drängt den Eindruck auf, der Islam an sich wäre eine kriegerische oder aggressive Religion.

Ja, das stimmt. Aber sehen Sie: Wenn man sich christliche Texte anschaut, dann müsste man denken, das Christentum sei eine pazifistische Religion. Muslime werden nirgendwo in ihren Schriften dazu angehalten, ihre Feinde zu lieben. Und ganz sicher nicht dazu, die andere Wange hinzuhalten. Wenn mal sich also die heiligen Schriften anschaut, dann gibt es da große Unterschiede. Aber wenn man die historische Bilanz betrachtet, dann ist die Differenz nicht so groß. Man muss sogar sagen: Christen waren insgesamt weit weniger tolerant als Muslime, und wenig war so zerstörerisch wie die Kriege von Christen untereinander. Die Religionskriege oder die katholische Inquisition – sie haben einfach keine Entsprechung in der Geschichte des Islam.

Heute ist das anders: Die islamistischen Terroristen bekämpfen gerade auch andere Muslime.

Auch das ist ein Ergebnis der Wahhabiten. Eine ihrer Innovationen war es, dass sie alle anderen muslimischen Glaubensschulen als Apostaten abgelehnt haben. Im Islam ist das ein schrecklicher Vorwurf, schlimmer als Unglaube. Denn ein Ungläubiger hat einfach noch nicht die Gelegenheit gehabt, zum wahren Glauben zu finden. Ein Apostat dagegen hat ihm abgeschworen. Darauf steht die Todesstrafe. Die Wahhabiten haben dem Wort „Apostat“ eine neue und schreckliche Bedeutung verliehen. Für sie schließt das jeden Muslim ein, der nicht ihren Glauben teilt.

Die Mehrheit der Attentäter vom 11. 9. stammte ja aus Saudi-Arabien. Seitdem scheint den USA klar geworden zu sein, dass die unkritische Allianz mit dem Königshaus ein Fehler war.

Manche haben das begriffen, andere nicht. Die Debatte darüber hält noch an.

Der Krieg gegen den Irak wurde ja auch mit dem Ziel einer Demokratisierung des Nahen Ostens geführt. Warum tut sich die arabische Welt damit so schwer?

Zunächst einmal muss man klären, was man unter Demokratie versteht. Es herrscht derzeit die Illusion vor, dass die Demokratie eine Art Normalzustand des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Aber was wir heute Demokratie nennen, das sind die Sitten der englischsprachigen Welt, wie sie ihre öffentlichen Angelegenheiten regelt. Dort hat das eine lange und erfolgreiche Geschichte. Aber schon die Demokratie auf dem europäischen Kontinent zu verankern war keine einfache Angelegenheit. Man sollte also nicht sagen: Es muss eine Demokratie sein, ansonsten leben sie in Sünde.

Kann es im Irak eine Demokratie geben?

Ich glaube, dass im Irak eine freie Gesellschaft möglich ist. Denn dieser Typus faschistischer Diktatur, die im Irak herrschte, hatte keinerlei Wurzeln in der islamischen Vergangenheit oder ihrer Kultur. Es war ein Import aus Europa. Die Baath-Partei wurde 1941 gegründet, nach dem Vorbild der deutschen Nazi-Partei und mit Hilfe von Agenten aus dem Dritten Reich. Später, nach dem Krieg und der Niederlage der Achsenmächte, orientierte sie sich am Kommunismus.

Was können wir tun, um die Demokratie in der Region zu befördern?

Wir können ihnen keine Demokratie bringen. Aber wir können ihnen dabei helfen, sie selbst zu erlangen. Vor allem können und sollten wir davon Abstand nehmen, die Tyrannen dort zu unterstützen. Das haben wir im Westen viel zu lange getan. Die Einstellung gegenüber Saddam Hussein und anderen war doch stets: Was immer wir tun, diese Menschen werden ohnehin von Tyrannen regiert werden. Also müssen wir sichergehen, dass sie uns freundlich gesinnt bleiben. Nur, offensichtlich hat das nicht funktioniert.

Eine freie Gesellschaft – ist das möglich trotz der Grenzen, welche die Religion setzt?

Das kommt darauf an. Sehen Sie, in England etwa gibt es auch keine konstitutionelle Trennung von Staat und Religion. Die Kirche von England existiert per Gesetz, die Königin von England ist das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, der Bischof sitzt im Oberhaus des Parlaments. Technisch gesprochen würde man sagen, England ist eine Theokratie. Natürlich ist es das nicht. Es ist eben eher die Art, wie die Religion verstanden wird, die zählt.

Das ist eine Frage der gesellschaftlichen Säkularisierung …

Ja, und das ist ein langwieriger Prozess. Aber er ist möglich.

Man hat den Eindruck, dass es mit dem Säkularismus aber eher rückwärts geht in der arabischen Welt.

Ja, und darum gibt es noch ein anderes schwerwiegendes Problem, dem man sich stellen muss. Wenn wir wirkliche offene Strukturen und freie Wahlen haben, wer wird die gewinnen? Darum denke ich, dass es ein Fehler ist, zu schnell zu freien Wahlen überzugehen. Denn Wahlen sind nicht der Ausgangspunkt, sondern das Endergebnis einer Demokratisierung.

Nehmen Sie etwa die Türkei. Sie wurde 1923 als säkulare Republik gegründet. Aber die ersten freien Wahlen fanden 1950 statt und endeten mit der Niederlage der damaligen Regierung. Es hat also mehr als ein Vierteljahrhundert gedauert, um von der Gründung einer säkularen Republik zu freien Wahlen zu kommen. Ich denke deswegen, dass es ein Fehler ist, freie Wahlen zu fordern für nächsten Dienstag oder auch nur für das nächste Jahr. Das ist eine gefährliche Dummheit.

Als erfolgreiches Beispiel für Säkularisierung und Demokratisierung ist die Türkei eher eine Ausnahme in der Region.

Ja. Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, ein demokratisches und säkulares System in einem islamischen Land zu etablieren. Aber es zeigt auch, dass es möglich ist, auch anderswo. Und im Irak stehen die Zeichen günstig.

Was gibt Ihnen Anlass zu dieser Hoffnung?

Im Irak haben sie das Schlimmste erlebt und keinerlei Verlangen mehr nach einem diktatorischen Regime. Außerdem gibt es eine größere gesellschaftliche Vielfalt. Und frühere Regimes haben ihre Öleinnahmen genutzt, um eine gute Infrastruktur zu schaffen sowie eine gut ausgebildete Mittelschicht. Und sie haben, in Bezug auf die Chancengleichheit, mehr für Frauen getan als jedes andere Land in der Region: Frauen haben Zugang zu Bildung und Berufen, in der Regierung, in Wirtschaft und Wissenschaft.

Der wichtigste Grund für das Scheitern der meisten islamischen Länder, mit der modernen Welt Schritt zu halten, liegt meiner Meinung nach im Umgang mit Frauen begründet. Das sehen auch viele Muslime so.