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Archiv-Artikel

Ein Leben für den Dschihad

Eine globale Idee, viele lokale Terrorzellen: Die Anschläge im Zeichen von al-Qaida sind eine Antwort auf das Vakuum, das die Verbürgerlichung der islamistischen Bewegungen hinterlassen hat

VON REINHARD SCHULZE

In der vergangenen Woche wurde in der Türkei der 29-jährige Yusuf Polat festgenommen, der als Drahtzieher der Anschläge von Istanbul gilt. Zwei islamistische Gruppen, wird durch die Ermittlungen deutlich, zeichnen sich für die Attentate verantwortlich: eine lokale Splittergruppe, die seit bald zehn Jahren bestehende „Front der Vorkämpfer für den Großen islamischen Osten“. Zum anderen al-Qaida, der Globalplayer des islamistischen Terrors. Die Attentäter selbst scheinen fast alle türkischer Herkunft gewesen zu sein. Was sagt uns das über den Zusammenhang von lokalem und globalem Terrorismus? Und was sagt uns das über die Motivation junger, militanter Muslime in den unterschiedlichsten Ecken der Welt, sich einer globalen Idee wie al-Qaida anzuschließen?

Denn das Markenzeichen al-Qaida steht ja heute nicht mehr in erster Linie für die von Bin Laden finanzierte und geleitete Terrororganisation, sondern eher für eine bestimmte Idee. Und es gibt auch in der Türkei offenbar ein Milieu, und sei es noch so klein, das für diese Idee anfällig ist. Als Bin Laden 1988 al-Qaida als Rekrutierungsbüro für arabische Freiwillige im Kampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan gründete, da war al-Qaida noch eine Zweckgemeinschaft von überzeugten Glaubenskriegern, die sich einer radikalen, mythisch gefärbten islamischen Sprache bediente. Als Bin Laden im Februar 1998 seinen berüchtigten Aufruf zu einer „islamischen Weltfront zum Krieg gegen Juden und Kreuzfahrer“ verfasste, schien es so, als ob er seinem losen Verbund damit eine feste Form geben wollte. Doch mit einer zentralistischen Organisation mochten sich offenbar nur wenige anfreunden. Was blieb, ist die Idee, die zur Legitimation jener Aktionen dient, die seit Jahren in loser, aber regelmäßiger Folge die Welt erschüttern.

Ob Netzwerk, Leitbild oder Idee: Al-Qaida ist letztlich ein Ausdruck für einen tief greifenden Wandel innerhalb der islamistischen Szene, der bis in die Achtzigerjahre zurückreicht. Dass der Name von Bin Ladens Gruppe zum Symbol für diese neue Orientierung werden konnte, hängt mit den Attentaten vom 11. September 2001 zusammen. Diese neue terroristische Aktionsform – eine Art „Propaganda der Tat“ – hat es immer wieder vermocht, muslimische Jugendliche zu mobilisieren, die sich von den klassischen islamistischen Bewegungen, wie sie etwa die ägyptischen Muslimbrüder vertreten, losgesagt haben. Diese neuen Splittergruppen, die sich in vielen islamischen Ländern gebildet haben, weisen ein paar Gemeinsamkeiten auf: Sie orientieren sich meist an einem lokalen Idol, der als unbeugsamer Held angesehen wird, und sehen sich existenziell mit dem Islam verbunden. Sie folgen nicht mehr der alten islamistischen Strategie, deren Ziel die Verwirklichung einer islamischen Gesellschaft war, sondern definieren ihre Existenz selbst als Ausdruck vollkommener Islamität.

Der Begriff „Dschihad“ wird hierbei zum Emblem für eine grundsätzliche Lebenshaltung. Ihre Islamität beweisen sich dessen junge Adepten nicht allein in der Befolgung der kultischen Pflichten, sondern vor allem durch die existenzielle Verknüpfung ihres persönlichen Schicksals mit „dem Islam“. Ihre Gegner sind zum einen die klassischen islamistischen Verbände, denen sie vorwerfen, sich zu wertkonservativen Parteien entwickelt zu haben. In der Türkei ist es gerade die gegenwärtige Regierungspartei AKP, die diese Trendwende politisch erfolgreich vorgemacht hat. Zum anderen sind es die verächtlich „Demokraten“ genannten islamischen Intellektuellen. Und schließlich sind es alle öffentlichen Symbole, die aus ihrer Sicht eine „antiislamische“ Institution repräsentieren.

Die vorherrschende, wertkonservative Tendenz innerhalb des islamistischen Milieus wird von einer Elterngeneration verkörpert, die in den Achtzigerjahren das politische Versagen ihrer Gesellschaftsutopien erleben musste, die durch die islamische Revolution im Iran 1979 angefacht worden waren. Doch weder dort noch in den arabischen Ländern hatte der Islamismus zu einer Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage beigetragen. Die Kinder dieser Generation von Islamisten, die von ihren Eltern auf eine puritanische Lebenshaltung hin erzogen wurden, mussten nun erleben, dass diese Ausbildung ihnen keinerlei soziale Karrieren mehr öffnete. Eine radikale Minderheit kritisierte ihre Elterngeneration und setzte sich von ihr symbolisch ab, indem sie sich einem „Leben im Islam“ verschrieb. Afghanistan, Bosnien oder der Nordkaukasus boten Ziele, wo ein solches Leben existenziell erfahren werden konnte.

Nach dem 11. September wurde al-Qaida zum Symbol für diese Idee, ohne dass damit zwangsläufig eine organisatorische Beziehung definiert wäre. Kontakte allerdings gab und gibt es. Manch ein Emissär von Bin Ladens engeren Zirkeln machte sich die Situation zunutze und versuchte, junge „Dschihadis“ zu kontaktieren und zu Aktionen zu motivieren. Lokale Idole boten hierfür eine gute Eintrittsmöglichkeit, und sie konnten vielleicht auch die Jugendlichen dazu anstacheln, mit einer „großen Tat“ ihre existenzielle Verknüpfung von Leben und Islam unter Beweis zu stellen.

Im Unterschied zu den klassischen Islamisten gehen die Dschihadis nicht davon aus, dass über die Errichtung eines islamischen Systems auch neue gesellschaftliche Normen durchgesetzt werden können. Vielmehr verstehen sie sich selbst als Exekutive eines islamisch gedeuteten Willens, der sie dazu legitimiert, unmittelbar „zur Tat zu schreiten“.

Hier mischt sich eine globale und eine lokale Perspektive. Global wirken die Dschihadis deshalb, weil sie sich in einem globalen Kampf zwischen Sein (Islam) und Nichtsein (Welt des Unglaubens) sehen und weil dieser Kampf prinzipiell überall stattfinden kann. Lokal hingegen wirken sie, weil sie sich in einem Milieu wähnen, das einer puritanischen Säuberung zu unterziehen sei. Diese beiden Ebenen können durchaus im Handeln einer Person präsent sein. Meist aber zeigt sich eine Differenz zwischen den „transnationalen“ und den „lokalen“ Dschihadis, und nicht immer herrscht zwischen beiden Lagern Frieden.

Anders war es in Indonesien. Hier hatte sich um den Dorfprediger Ali Ghufron alias Mukhlas eine kleine Gruppe von Dschihadis gebildet, zu denen die sechs späteren Bali-Attentäter vom Oktober 2002 gehörten. Diese lokale Gruppe wurde offenbar durch einen Emissär aus dem Umfeld von al-Qaida kontaktiert.

Eine ähnliche Verknüpfung gab es auch in Marokko. Die fünf Bombenanschläge von Casablanca am 16. Mai 2003 wurden von einer Gruppe von 14 jungen Männern verübt, die in dem inhaftierten Prediger Miloudi Zakaria ihr großes Idol sahen. Der größte Teil von ihnen stammte aus dem Vorort Sidi Moumen, wo sie Mitglieder einer Jugendbande waren. Diese Gruppe hatte schon vorher von sich hören gemacht, als sie mit Gewalt gegen Alkohol trinkende Gäste in Cafés vorgegangen war. Die Gruppe agierte in einem sehr eng begrenzten Bereich ihres Viertels in Casablanca, als sich bei ihnen ein Emissär vorstellte, der angeblich im Auftrag Bin Ladens in die Stadt gekommen war, um tatkräftige Dschihadis zu rekrutieren. Er scheint Erfolg gehabt zu haben, denn bald schon einigte sich die Gruppe auf ihre gemeinschaftlich begangenen Selbstmordanschläge.

Die sozialen Milieus, aus denen die potenziellen Dschihadis stammen, können dabei sehr unterschiedlich sei. Die Al-Qaida-Idee verlangt, dass sich junge Leute so existenziell und schicksalhaft mit „dem Islam“ verknüpft sehen, dass sie ihr Leben mit dem Islam gleichsetzen. Zu einer solchen radikalen Entsubjektivierung des Ichs, die den Sektencharakter der Dschihadis markiert, sind nur wenige bereit. Was letzten Endes den Ausschlag für die Wahl dieser Einstellung gibt, hängt von der individuellen Biografie jedes Einzelnen ab.

Die Al-Qaida-Idee hat manchen jungen Muslimen die Möglichkeit gegeben, die Brüche in der eigenen Biografie radikal umzudeuten. Der größte Teil der jüngeren Generation in muslimischen Gesellschaften hat andere Wege gewählt, um mit dem Scheitern der klassischen islamistischen Bewegungen fertig zu werden. Doch in Ländern wie Irak, Saudi-Arabien, Afghanistan und Pakistan haben unterschiedliche soziale und politische Prozesse dazu geführt, dass solche biografischen Brüche kein Randphänomen mehr sind, sondern zu einem gesellschaftlichen Problem geführt haben.

Die Gründe hierfür sind je nach Land und Gesellschaft sehr unterschiedlich. In Saudi-Arabien ist der Weg für angestammte Karrieren in islamischen Institutionen durch einen tief greifenden Wandel mehr und mehr versperrt, was junge Akademiker, die in islamischen Wissenschaften wie Theologie und Recht ausgebildet wurden, auf die Barrikaden bringt. Die Al-Qaida-Idee liefert ihnen hierfür einen passenden Deutungsrahmen.

Im Irak hat der Krieg und der Untergang des alten Regimes in den Biografien vieler junger Leute wie ein einschneidendes Lebensereignis gewirkt. Auch hier bietet die Al-Qaida-Idee womöglich eines von mehreren Deutungsmustern, mit dem Bruch klarzukommen. In kritischen Momenten kann diese Deutung mobilisiert werden, und dann mag der eine oder andere sich individuell für die radikale Umsetzung des Al-Qaida-Prinzips „Ich gehe in den Dschihad, also bin ich“ entscheiden. Dieses kann unter gewissen Umständen schließlich sogar in der Selbsttötung als „ultimative Islam-Seinserfahrung“ münden. Bis es aber tatsächlich zu koordinierten Selbstmordanschlägen kommt, ist es ein langer Weg.

Vielfach hat die Entscheidung zu einem „Leben im Dschihad“ die jungen Leute erst einmal in aktuelle Konfliktgebiete geführt, vor allem nach Kaschmir, Afghanistan und Tschetschenien. Von dort aus übertragen sie ihre Aktionsbereitschaft in ihre Herkunftsländer, wo sie vielleicht ein Milieu von Gleichgesinnten finden, die sich gerade dazu entschlossen haben, dieses „Leben im Dschihad“ zu führen. Der Entlokalisierung folgt so gewissermaßen die Wiedereingliederung in ein lokales soziales Milieu, durch die der eigentliche Terrorakt erst möglich wird. So kann es sein, dass in Istanbul die Terrorgruppe IBDA-C als lokales Milieu für die Akteure gewirkt hat, die sich zuvor für einige Zeit im Rahmen eines „Lebens im Dschihad“ in Afghanistan oder Pakistan aufgehalten haben: mit Unterstützung des al-Qaida genannten Netzwerkes.

Solcherart gebrochene Biografien islamistischer Aktivisten erhöhen ihre Anfälligkeit für die Al-Qaida-Idee. Sie ist zwar ganz sicher nicht das dominante oder populärste Deutungsangebot in der islamischen Welt, aber ohne andere Formen der Bewältigung solcher biografischen Brüche wird die Al-Qaida-Idee in bestimmten Milieus noch längere Zeit eine Option bleiben.

Reinhard Schulze ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. Er ist Autor eines Standardwerks über die „Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert“ (Verlag C. H. Beck, München 2002, 19,90 €)