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Archiv-Artikel

Thora statt Kampfhelikopter

Seit Israel die palästinensischen Gebiete besetzt hält, hat sich die jüdische Identität zunehmend militarisiert, glaubt Marc Ellis. Damit verstärkten die Juden nur ihr Trauma

Diese Essaysammlung geht Fragen nach, die das alltägliche Leben von Juden berühren: die Bewältigung des Holocaust, die Zukunft Israels und Palästinas. Marc Ellis, Professor für Amerikanische und Jüdische Studien an der Baylor Universität in Texas, fragt sich, was es angesichts der israelischen Besatzungspolitik bedeutet, ein jüdisches Leben zu führen. Für einen amerikanischen Juden ein nicht alltägliches Problembewusstsein im Zeitalter von George W. Bush und Ariel Scharon.

Während die Entwicklung im Nahen Osten auf eine Eskalation hintreibt, die durch die aggressive Politik der USA und Israels verursacht worden ist, verweist Ellis auf seine Vision vom Judentum: Für ihn bietet der jüdische Glaube die Grundlage für eine ethisch verantwortliche Politik. Hoffnung für die Zukunft könne es nur geben, wenn man den Missbrauch bekämpfe, der durch Israel und das jüdische Establishment in den USA mit ureigenen Werten getrieben werde. Ellis fragt zu Recht, wie es möglich sei, dass ein israelisch-jüdisches Gemeinwesen mit inhumanen Maßnahmen gegen die Palästinenser vorgeht, und wie dies im Einklang mit der jüdischen Ethik stehe.

Ellis skizziert die Probleme für das jüdische Leben und seine Ethik, wenn die Besatzung fortdauert. Seine These ist: Durch die „fast vollständige israelische Besetzung Palästinas“ ist die jüdische Identität zunehmend militarisiert worden, und das habe zum Verlust des Fundaments jüdischer Ethik geführt. Diese Militarisierung vergrößere zudem die Kluft zwischen den führenden Politikern und den jüdischen Persönlichkeiten, die ihrem Gewissen verpflichtet seien. Ellis ist besorgt darüber, dass eines Tages die „Torah“ und der „Bund mit Gott“ von Kampfhelikoptern ersetzt würden. Seitdem die militärische Macht jüdisches Leben definiere, sollten sich Juden gegenüber ehrlich sein, was sie verehrten. Wer bringe mehr Sicherheit: der Bund mit Gott oder die Kampfhelikopter?

Ellis bedient sich jüdischer Kommentatoren, um die israelische Politik zu kritisieren. „Andere zu erniedrigen kann uns nicht von dem erlittenen Trauma heilen. […] Im Gegenteil: Es verstärkt das Trauma durch die Aushöhlung unserer Wurzeln, die es uns ermöglicht haben zu überleben.“ Jüdische Intellektuelle, die sich für die israelisch-palästinensische Sache eingesetzt haben, seien durch das jüdische Establishment marginalisiert worden. Er erinnert an Judah Magnes, Martin Buber und Hannah Arendt, die sich alle gegen die Gründung eines jüdischen Staates ausgesprochen hätten und deshalb beiseite geschoben worden seien. Neben diesen jüdischen Intellektuellen könnten auch Gandhi, Martin Luther King oder Gustavo Gutiérrez als Quelle der Inspiration für Juden und Israelis genutzt werden. So fragwürdig das schon ist, noch befremdlicher mutet an, dass Ellis sich selbst als Visionär in der Tradition der alttestamentarischen Propheten begreift.

Zwei Wege führen für Ellis „out of the ashes“. Erstens: Juden erbitten von den Palästinensern „revolutionäres Vergeben“, um den Zyklus der Gewalt und des Erinnerns zu überwinden. Zweitens: Jerusalem sollte zum „broken middle“ für die beiden „gebrochenen Völker“ werden, worin eine „Solidarität in der Leidenserfahrung“ liege. Darauf könnten beide Völker Neues aufbauen. Obgleich viele Argumente für deutsche Ohren einen schrillen Klang haben, wäre eine Übersetzung diese Buches ein lohnenswertes Unterfangen, gerade im Zeitalter eines wieder erstarkten Antisemitismus.

LUDWIG WATZAL

Marc H. Ellis: „Israel and Palastine Out of the Ashes. The Search for Jewish Identity in the Twenty-First Century“. Pluto Press, London 2003, 198 Seiten, 21,55 €