: Glücklich ist man nur im Alter
„Wenn man mich fragt, was denkt man angesichts des Todes, so sage ich: Schwarz, wie ein schwarzer Vorhang. Keine Angst“: Ein Porträt der in Prag geborenen jüdischen Pianistin Alice Herz Sommer, die das KZ Theresienstadt überlebte und in diesen Tagen in London ihren 100. Geburtstag gefeiert hat
VON ANNE PRZYBYLA
Alice Herz Sommer schüttelt den Kopf und lächelt. Kein Foto von ihr am Klavier. Das bedeutete „Nein“ der Pianistin ist so leise wie bestimmt: So ein Bild würde das, was sie diese hundert Jahre, die ihr Leben nun währt, immer wieder fasziniert, herausgefordert und versöhnt hat, auf eine halbherzige Geste reduzieren. Das Klavierspiel und die Musik, die Sommer das KZ der Nazis in Theresienstadt hat überleben lassen, gibt sie nicht unzulässig preis.
Die Stimme klingt dunkler, wenn sich Sommer an den Ort des Schreckens begibt, als tauche sie leiblich hinab. Als Zuhörerin fühlt man sich für einen Moment seltsam allein in dem stillen Londoner Apartment, fürchtet, dass die Erinnerung die Kräfte der alten Dame übersteigen könnte. Ihr Gesicht verliert vor Anstrengung seine Breite, scheint nach innen gezogen zu werden. Dann ist sie aber wieder da: „Wenn man mich fragt, was denkt man angesichts des Todes, so sage ich: Schwarz, wie ein schwarzer Vorhang. Keine Angst.“
Einige hundert Frauen mit Kindern waren bei eisiger Kälte weit hinaus aus dem Ghetto geführt worden. Nach langem Warten kommen drei Nazis und fordern die 40-jährige Frau auf, sich mit neun anderen in einer Reihe aufzustellen. Den sechsjährigen Sohn hält Sommer vor sich auf dem Arm. „Ich habe ihn gehalten. Was mit mir geschieht, wird mit ihm geschehen. Dann hören wir die Tschechen laut schreien: Zurück ins Ghetto! Dieses ‚Zurück ins Ghetto‘, wo ich kaum beschreiben kann, wie wir dort gelebt haben, jetzt vor dem Tod: ein Paradies.“
Als Tochter eines tüchtigen Kaufmannes und einer strengen, ungewöhnlich gebildeten Mutter wurde Alice Herz Sommer am 26. November 1903 in einem kleinen Ort bei Prag geboren. Den Wohlstand, den der Vater seiner siebenköpfigen Familie verschaffte, würdigte die Mutter kaum, stritt viel mit ihm, wenn er abends nach Hause kam. „Geld hat keinen Wert. Zu lernen, das ist das Wichtigste und Wertvollste!“, impfte sie den Kindern ein. Dafür kritisierte Sommer die Mutter schon mit elf Jahren: „Nimm Vater um den Hals, gib ihm einen Kuss. Dann hättest du ihn lieber.“
Scharfsinnigkeit ohne Humor und ohne Liebe für das Leben kann Schaden anrichten, davon ist sie überzeugt. Mit keiner Silbe aber beschwert sie sich über andere. Die eiserne Disziplin, die ihr im Elternhaus beigebracht wurde, nutzt sie, um sich immer wieder auf Schönes zu besinnen: den kleinen Komfort, den ihr Apartment im Londoner Stadtteil Belsize Park bietet, die Musik, die Literatur und sogar das Alter. In einem Deutsch, das in seiner Eindringlichkeit an die Schwarz-Weiß-Filme der Dreißigerjahre erinnert, proklamiert sie: „Der Jugend gehört die Welt. Glücklich ist man im Alter. Warum? Weil man vollkommen anspruchslos ist. Man verzichtet mit Leichtigkeit. Die ungeheure Erfahrung, die man hat, Weite, Ruhe, man kann lesen, Musik genießen …“
Das Zimmer ist funktional und völlig uneitel möbliert: der kleine Couchtisch, zwei leichte Sessel, das Pianino, handwerklich solide im britischen Klavierbauerhaus „Knight“ gefertigt. Zur Erinnerung Fotos ihres Sohnes Raphael Sommer, der vor zwei Jahren als erfolgreicher Cellist in London verstarb, sowie das Gemälde einer befreundeten Malerin. Es zeigt Jerusalem, wohin sie 1947 nach zwei Jahren im tschechischen Sozialismus auswanderte, dort 37 Jahre lebte, bevor sie 1986, bereits 83-jährig, mit ihrem Sohn und dessen Familie nach London übersiedelte. Die Angst, dass das Kind allein zurück bleiben könnte, ist im KZ das „Schwerste“ für die Mutter. Einmal muss sie zur Arbeit in die Wäscherei und den Sohn zurücklassen. Die Straße des Vorzeige-KZs ist an diesem Tag menschenleer, weil viele Häftlinge gerade nach Dachau deportiert worden sind – auch ihr Mann Leopold Sommer, ein sehr guter Geiger, kommt dort ums Leben. Der kleine Raphael will die Mutter nicht gehen lassen: „Der Vater ist weg, jetzt bleibe ich allein in der Welt.“ Sommers Stimme stockt: „Diese Worte hat er gesagt, das kann ich nicht schildern, das war der tiefste Punkt in meinem Leben.“
„Es sind schreckliche Dinge passiert“, sagt Alice Herz Sommer, „aber wenn man wusste, abends würde man spielen, dann war man zufrieden.“ Noten gab es nicht. Aus dem Kopf konzertierte sie mit den 24 Etüden von Chopin, spielte im Rathaus von Theresienstadt zwanzigmal die Sonaten von Beethoven.
Die Freundschaft zu der Wienerin Edith Kraus, ebenfalls eine Pianistin, bietet Alice Herz Sommer in Theresienstadt Halt. Acht Stunden arbeiten die beiden täglich nebeneinander. Die SS lässt die Musikerinnen transparente Steine spalten, die in Öfen als Sichtfenster eingebaut werden. „Ich habe nie in meinem Leben so viel mit einem Menschen gesprochen wie mit ihr damals“, sagt sie über ihre beste Freundin, die heute 90 Jahre alt ist und in Jerusalem lebt.
Die Freundschaft der beiden Klavierspielerinnen wurde im KZ auf eine harte Probe gestellt. Das Leben der einen hätte den Tod der anderen bedeuten können: Edith Kraus steht eines Tages auf der Deportationsliste. Sie akzeptiert es, als der Ältestenrat ihr sagt, man könne sie nicht von der Liste nehmen: Die andere Pianistin, die noch in Frage komme, habe ein Kind. Wie durch ein Wunder wird Ediths Name doch noch gestrichen.
Für einen Moment ist es still im Londoner Zimmer. Wie jemand, der wieder und wieder nach dem Sinn fragt, hebt sie nach einer Weile wie im Selbstgespräch an: „Das Resultat? Sagen wir, ein Gott war da oder ist da, er hat Gutes und Schlechtes gleichzeitig geschaffen. Das Schlechte ist da, um besser zu werden.“ Wenn einem das Schlechte zustößt, wie es Alice Herz Sommer geschehen ist, braucht es Kraft und Optimismus, es nicht persönlich zu nehmen, sondern als Herausforderung. Sehr selbstbewusst sagt sie: „To be a survivor – ist etwas Außergewöhnliches, das ist schon eine Leistung, eine Mutter mit ihrem Kind. Meine Schwester hätte das nicht geschafft.“
Diszipliniert, ohne sich anzulehnen, sitzt sie auf der Couch, die zugleich Bett ist, und erzählt. Auch von Franz Kafka, der mit ihrem Schwager befreundet war, wie er ihr und ihrer zehnjährigen Zwillingsschwester eine Geschichte erzählte und dabei selbst völlig entrückte. „Er war ein Kind mit seinen großen Augen, er war ein Mensch, der sich entschuldigt, dass er lebt.“
Nun, fast hundert Jahre später, übt sich Alice Herz Sommer mit einem befreundeten Ehepaar am Beethoven-Trio „Tony und Paula“. Sie liest viel, nicht zuletzt, weil sie seit ihrer Kindheit eine schlechte Schläferin ist. Mit einer Viertel Schlaftablette bringt sie es immerhin auf drei Stunden in der Nacht. Außerdem besucht sie die „University for the third age“, die Uni fürs dritte Lebensalter. „Dort sind Leute von 60 bis 100 Jahre“, erklärt sie und bemerkt lächelnd: „Ich bin die Einzige, die sehr alt ist.“