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Archiv-Artikel

Alles drin

Sci-Fi, Private-Eye-Thriller, Superheldencomic, Western: Mit „Überall Blut“ hat der spanische Romancier Rafael Reig einen ausgekochten, etwas wirrköpfigen und surrealistischen Trash-Bastard geschrieben

von FRANK SCHÄFER

Die literarische Postmoderne hat sich gern der Trivial- und Genreliteratur bedient, als ironische Anspielstation sozusagen, als Referenz- und Hallraum. Ecce Eco! Sie tat gut daran, weil man so in den oft unübersichtlichen, metaliterarischen Verweislabyrinthen wenigstens ein paar Handlungsschnitzel ausgestreut bekam, denen man folgen konnte. Dass sie nur Zweitverwertung waren, wen störte das? Man nahm, was man kriegen konnte. Aber dann war es auch schon gut, und die Tristesse-Post-Moderne wurde weggeheftet in den betreffenden Ordner der Literaturgeschichte. Vermisst da jemand was?

Aber jetzt, wo das alles quasi-historisch ist, lässt sich immerhin gut darüber scherzen. Der mit allen literarischen Wassern gewaschene spanische Romancier und Literaturwissenschaftler Rafael Reig tut genau dies und schreibt mit „Überall Blut“ eine virtuose Persiflage dieser Barockmoderne. Reig fleddert nicht eine Trivialgattung, um damit sein Buch aufzurougen, er nimmt sie sich gleich alle vor: Science Fiction, Private-Eye-Thriller nach Chandler-Art, Western, Superhelden-Comic, Porno, Literatur-Satire. Dass sich all diese Stilbrüche und Fiktionsklitterungen nicht zu einem homogenen Roman fügen, versteht sich von selbst. „Überall Blut“ ist ein ziemlich ausgekochter, manchmal etwas wirrköpfiger und surrealistischer Trash-Bastard, der nur mit Ach und Krach den Plot zu einem halbwegs einsichtigen Ende führt.

In einer alternativen Gegenwart oder nahen Zukunft haben die Kommunisten nach Francos Tod die Wahlen gewonnen – infolgedessen haben die USA die Iberische Halbinsel annektiert und Englisch zur Pflichtsprache gemacht. In Madrid ermittelt der Privatdetektiv Carlos Clot in verschiedenen Fällen, die sich dann chandleresk zu einem einzigen verzwirnen. Ein verbrecherisches Großunternehmen, Chopeitia Genomics, schmiert nicht nur die Politik und kontrolliert den Drogenhandel, es stellt auch verbotene Gen-Versuche an Menschen an. Clot, der desillusionierte, saufende Moralist, der nur noch weitermacht wegen seiner geistig behinderten Tochter, gerät an ein Dokument, das die Experimente belegt, und könnte den Laden nun auffliegen lassen. Aber dann hat seine Tochter einen Unfall und fällt ins Koma, und die Organisation um den skrupellosen Manex Chopeitia bietet ihm einen Deal an. Das Dokument gegen ein Präparat, das Clots Tochter nicht nur wieder zurückholt aus der geistigen Umnachtung, sondern auch ihre Behinderung heilt.

Ab hier changiert die Kolportage ins moralphilosophische Traktat. Vorher ist aber noch der Western dran. Unerwartete Hilfe bekommt Clot nämlich von Spunk McCain. Dieser aus dem unvollendeten Roman „Überall Blut“ von Phil Sparks entsprungene Cowboy begibt sich mit dem Detektiv auf die Suche nach seiner ebenfalls absenten Partnerin Mabel Martinez, ohne die der Roman nicht weitergehen kann, und beschützt ihn vor Dee Dee Reeves, einer von Chopeitia gedungenen Auftragsmörderin, die ihre Opfer zu Tode vögelt und ihnen mit ihren Brustwarzen die Augen aussticht. Clot fragt schließlich seinen neuen Freund McCain, wen er retten soll: die Welt oder doch lieber seine Tochter.

Nun ist Spunk eine fiktive Figur mit dem ethischen Rigorismus des Westerners: Er muss sich gegen die Tochter entscheiden. Clot hingegen besitzt den moralischen Pragmatismus eines hart gekochten Privatschnüfflers und kann nun ebenfalls nicht raus aus seiner Haut – hübsch und witzig, wie Reig hier zwei ethische Positionen in Gestalt zweier Archetypen der Populärkultur gegeneinander antreten lässt. So eine Metafiktion ist selbstverständlich erst zu Ende, wenn das Buch im Buch fertiggestellt ist. Da der Autor Phil Sparks auch von den Häschern Chopeitias umgebracht wird (er weiß zu viel!), muss sich Clot an die alte Olivetti setzen und „Überall Blut“ weiterschreiben, bis auch dieser Roman endlich in die „Kaliber 33“-Westernreihe aufgenommen wird.

Man merkt hier wohl schnell, dass es sich bei „Überall Blut“ um eine entfesselte literarische Fantasie handelt, voll gestopft mit Anspielungen, nicht nur auf die populäre Literatur, sondern auch auf Klassiker wie Pirandello und Unamuno und wohl auch auf die zeitgenössische spanische Literatenszene. Leider ist sie meistens bloß Papier – wie so oft bei diesen postmodernen Kartenhäusern. Die utopische Madrider Lebenswelt bleibt schwarzweiß, die Charaktere sind nicht wirklich tiefenscharf. Bei der Anzahl des Personals ist das auch kein Wunder. Immerhin gelingt es Rafael Reig durch unaufdringliche Reprisen eine gewisse Übersichtlichkeit herzustellen.

Aber an ein paar Stellen bekommt man doch den Eindruck, dass man hier nicht bloß einem literarischen Vexierspiel beiwohnt. Wenn Reig zum Beispiel Clots Liebe zu seiner behinderten Tochter schildert, seinen Stolz oder dessen Enttäuschung über den Konformismus seiner Exfrau, vormals einer engagierten Journalistin, die gegen Chopeitia Genomics recherchierte, dann hat das mal keinen intertextuellen, sondern einen echten emotionalen Gegenwert, dann ist Carlos Clot kein Wiedergänger Philip Marlowes mehr, sondern ganz er selbst.

Rafael Reig: „Überall Blut“. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2003, 221 Seiten, 14,90 Euro