: Völlig Dada
Im New York der frühen Zwanziger erlebte ihre Performance um Sex, Wahn und Körper einen kurzen, aber heftigen Hype. Danach driftete Elsa von Freytag-Loringhoven dem Vergessen entgegen. Bis jetzt: Eine neue Biografie feiert Leben und Werk der deutschen Dada-Queen
von JUDITH LUIG
An einem Nachmittag im Frühjahr 1918 empfing Jane Heap einen außergewöhnlichen Gast. Eine Frau im schottischen Kilt, mit Möbelborten um die Gamaschen, langen Eisbecherlöffeln an der Baskenmütze und einem mit Schrot gefüllten Ring am Finger stolzierte in Heaps Wohnzimmer. „Vor ihrem Busen baumelten zwei Tee-Eier, von denen das Nickel abgeblättert war“, erzählte die Herausgeberin des prestigeträchtigen Kunstmagazins Little Review später.
Auftritt: Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven. Provokant, genial und bettelarm. Eine Performancekünstlerin, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Eine Dada-Dichterin der ersten Stunde. Ihre Assemblagen aus gefundenen Objekten inspirierten Marcel Duchamp; Ernest Hemingway riskierte für die Veröffentlichung ihrer Gedichte seinen Redakteursposten; sie stand Modell für Man Ray und Theresa Bernstein; sie wurde von der jungen Peggy Guggenheim gefördert. Dass Heaps Besucherin, als sie nun schon einmal in deren Wohnzimmer war, auch noch einen Satz Briefmarken klaute, war im Nachhinein wohl das am wenigsten Bemerkenswerte ihrer Vorführung.
Heap war sofort begeistert von der antibürgerlichen Kunst der deutschen Baroness. Lebte sie doch das Motto der Herausgeberin: „No Compromise with the Public Taste“ (Kein Zugeständnis an den öffentlichen Geschmack). In der Little Review vom Juni 1918 stellte Heap Elsa von Freytag-Loringhoven vor. Von da an wurde sie zur Galionsfigur der Zeitschrift. Ihre Verse von Sex und Wahn beschworen wilde Kontroversen unter den Lesern herauf. In „König Adam“ (Mai 1919) zum Beispiel fordert eine Frau ihren Liebhaber zu oralem Sex auf. Eine Fußnote erklärte, das Gedicht sei dem Zensor gewidmet. Prompt musste die Ausgabe verbrannt werden. Gegen die wilden Protest- und Begeisterungsstürme fielen die Reaktionen auf den zeitgleich als Vorabdruck erscheinenden Roman Ulysses des Iren James Joyce regelrecht harmlos aus.
Die „Art of Madness“ der Baroness brachte die Modernisten gegen die Dadaisten auf. „Eine tödliche Attacke auf die Kunst“, schimpfte die Kritikerin Lola Ridge über das Gedicht „The Cast-Iron Lover“ (September 1919). Für Evelyn Scott, selbst Dichterin, war Elsa von Freytag-Loringhoven „bloß eine nackte Orientalistin, die im Sextanz ihrer Religion feierlich unanständige Gesten macht“.
Die wilde, vulgäre Sinnlichkeit, zur Schau getragen an Elsas androgynem Körper, löste eine Debatte über weibliche Sexualität und die Macht männlicher Kontrolle aus. „Die Baroness ist die erste amerikanische Dada“, urteilte Jane Heap. „Sie ist die Einzige auf der Welt, die sich Dada kleidet, Dada liebt, Dada lebt.“ Und doch: Am Ende ihres schillernden Lebens war die verrückte Dada-Queen einsam, depressiv und körperlich am Ende. Elsa von Freytag-Loringhoven starb 53-jährig am 14. Dezember 1927 in Paris. Todesursache: ausströmendes Gas. Wer den Hahn öffnete, wird wohl ungeklärt bleiben. Djuna Barnes, enge Freundin der Dada-Baroness, empfand deren Ableben als „dummen Witz, der noch nicht einmal den Anstand der Bösartigkeit besaß“.
So rätselhaft wie ihr Tod, so rätselhaft ist auch, warum ihre Kunst heute nicht in einem Zug mit der Picabias, Duchamps oder Ezra Pounds genannt wird. Zwar finden sich Werke der Baroness im Museum of Modern Art in New York, in Philadelphia und in privaten Sammlungen wie der von Mark Kelman, doch es sind nur wenige ihrer Objekte erhalten geblieben. Erst 75 Jahre nach ihrem Tod hat der Sammler und Galerist Francis M. Naumann im Frühjahr 2002 die weltweit erste Retrospektive ihrer Kunst gezeigt.
Freytag-Loringhoven war eine Avantgardistin – keine Futuristin, wie Marcel Duchamp betonte: „Sie ist die Zukunft.“ Auf den Punkt gebracht ist ihre exzentrische Objektart vielleicht am besten mit dem „Limbswish Ornament“ aus dem Jahr 1920, einer 55 Zentimeter hohen Metallfeder, die sich um eine troddelige Vorhangquaste windet. Das Ganze war ursprünglich an einem gebogenen Draht befestigt; heute ist der „Limbswish“ auf einen Holzsockel genagelt. Doch genau das widerspricht dem Kern dieses Kunstwerks. Der „Limbswish“ steht nämlich für Dynamik. Die Baroness trug das Objekt am Hüftgürtel und nutzte es wie eine Peitsche und erzeugte zugleich damit Dada-Musik. Der Name lässt sich als limb’s wish deuten, als körperliches Verlangen, aber auch als limb swish, als Unterleibspeitsche. So bewaffnet, trat Elsa von Freytag-Loringhoven bei ihren Performances in den Straßenschluchten Manhattans auf.
Wie sich an dieser angewandten Müllkunst zeigt, sind ihr eigener Körper und ihre radikale Energie der Kern von Freytag-Loringhovens Kunst. Doch da bislang kein Medium wirklich in der Lage war, diese Dynamik auszudrücken, fiel es bislang schwer, ihr Genie nachzuempfinden.
Doch jetzt ist eine Biografie erschienen, die zumindest die Wissenslücken füllt. Irene Gammel ist mit viel Herzblut und enormem Rechercheaufwand dem Leben der Baroness nachgegangen. Die Literaturprofessorin beschränkt sich nicht auf die in der Universität Maryland archivierten Briefe, Notizen und Dokumente aus dem Nachlass. Sie betrachtet auch Werke, zu denen die Baroness ihre abgelegten Liebhaber inspirierte, wie die um 1900 entstandene Novelle „Klasin Wieland“ von Oscar A. H. Schmitz, das Drama „Kampf ums Rosenrote“ (1904) von Ernst Hardt oder den Roman „Fanny Essler“ (1905) von ihrem Ex-Ehemann Felix Paul Greve, den sie als ihre „Sexsonne“ bezeichnete.
Die Stimmen über Elsa von Freytag-Loringhoven, denen Gammel in Tagebüchern, Rezensionen und Kunstwerken anderer Künstler nachgegangen ist, mischen sich so mit den Berichten, wie die Baroness selbst sich und ihr Umfeld gesehen hat. Bei aller wissenschaftlichen Methodik liest sich „Die Dada Baroness. Das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven“ so spannend wie ein Roman und bleibt doch immer nah an den historischen Fakten.
Wie Gammel erforscht hat, erschließt sich der 1874 als Else Hildegard Plötz geborenen Künstlerin schon früh die Ausdruckskraft, die in Körper und Kleidung stecken. Aus Rebellion gegen den brutalen Vater bringt die Mutter Else und die jüngere Schwester zum Frisör und lässt den Mädchen einen Kurzhaarschnitt verpassen – ein radikaler Akt im bürgerlichen Ostseebad Swinemünde.
Nach dem Selbstmord der Mutter entflieht Else Plötz der Strenge des Vaters und geht nach Berlin. Hier wird sie – bekleidet nur mit einer Ganzkörperstrumpfhose – Modell in Henry de Vrys „Lebenden Bildern“ im Varieté Wintergarten. Die Tournee des Ensembles begeistert Plötz: „Hier begann ich zu verstehen, was Leben bedeutete – jede Nacht ein anderer Mann. Jetzt also – wurde der Inhalt meiner vagen Jugendträume Wirklichkeit. Ich war berauscht.“
Aus der Lust ein Gewerbe zu machen fiel ihr jedoch trotz ihrer ständigen finanziellen Sorgen nicht ein: „Geschmacklos.“ Die Grenzen ihrer Sexualität wollte sie selbstbestimmt überwinden. Und nicht auf Wunsch und Weisung eines Freiers. Else Plötz’ androgyner Körper, ihr Spiel mit Geschlechterideologien und ihre expressiv dargestellte Lust faszinierten zahlreiche Künstler. Sie steht Modell, wird Muse, Vorreiterin der erotischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Einer kurzen Liason mit dem Maler Melchior Lechter – „der Sex war eher unaufregend“, resümiert Gammel – und einer Beziehung mit dem Dramatiker Ernst Hardt, den ihre wilde Sexualität gleichermaßen fasziniert wie einschüchtert, folgt eine Zeit in Italien an der Seite des Studenten Richard Schmitz. Doch auch hier bleibt Else Plötz offenbar unbefriedigt.
Sexuelle Frustration zieht sich wie ein Leitmotiv durch ihr Leben. Auch bei den Münchner Kosmikern, deren Muse sie zeitweise ist, hält sie sich nicht – zu viele männliche Vorurteile. Erst der Architekt August Endell, dessen heute berühmtestes Werk die Fassade der Hackeschen Höfe in Berlin-Mitte ist, weiß mit ihrer körperlichen Energie umzugehen. Im Frühjahr 1901 macht Else Plötz ihm einen Heiratsantrag, und er willigt ein. Mit ihm beginnt Elsas Zeit der originellen Kostüme. Endell inspiriert sie intellektuell – mehr als erregen, so deutet Irene Gammel die Tagebuchnotizen, kann aber auch er sie nicht. Zwei weitere Ehemänner sollen noch folgen: Felix Paul Greve, der sie nach Amerika bringt, aber dann dort sitzen lässt; und Baron Leopold Freytag von Loringhoven, dessen Adel ihr zwar keinen Besitz, aber doch immerhin den schicken Titel einbringt.
Als geheime Muse hat Elsa in ihrer frühen Zeit die Männer fasziniert und verführt“, schreibt ihre entfernte Nachfahrin Gisela Baronin Freytag von Loringhoven in ihrem Nachwort zur Biografie. Zu dieser Zeit sei jedoch in Deutschland kein Platz für eine Frau gewesen, die nicht nur verstecktes Objekt und Inspiration sein wollte. „Sinnliche Frauen konnten sich hier nur begrenzt entfalten.“
Erst in der multikulturellen Boheme von Greenwich Village gab es gedanklichen Freiraum für die experimentelle Kunst der Baroness. Auch Irene Gammel sieht das Problem von Elsas schwierigem Karriereverlauf in ihrer extremen Weiblichkeit und der Dominanz von Männern auf dem Kunstmarkt. Doch auch New York kapituliert letztendlich vor den Skandalen der Baroness. Selbst Jane Heap, die den Hype in der Little Review förderte, tritt letzten Endes nicht radikal genug für sie ein.
Grund hierfür – auch vor dieser Wahrheit schreckt Gammel nicht zurück – sind nicht allein Männer, die Angst vor Übermacht und Wahnsinn der intensiven Adligen hatten. Es sind die Drohbriefe, die Übergriffe, die Ausfälle, mit denen die Baroness ihr Umfeld ständig attackierte. Auch das spricht immer wieder deutlich aus der „Dada Baroness“: Elsa von Freytag-Loringhoven war eine geniale Künstlerin – und eine große Nervensäge.
JUDITH LUIG, 28, ist Redakteurin im taz.mag