: Das zweite Vietnam
Die wahren Lektionen aus ihrem größten außenpolitischen Desaster haben die USA noch nicht gelernt. Darum wiederholen Bush und seine Berater die alten Fehler jetzt im Irak
Zwischen Vietnam und dem Irak gibt es große kulturelle, politische und geografische Unterschiede, die nicht zu unterschätzen sind. Auch ist heute die geopolitische Situation eine gänzlich andere als während des Vietnamkrieges. Die USA ermunterten und unterstützten Saddam Hussein in seinem Krieg gegen den Iran in den 80er-Jahren, weil sie die Dominanz militanter Schiiten über die Golfregion befürchteten. Das tun sie noch heute. Aber die USA ignorierten viele der Lektionen ihrer traumatischen Erfahrungen in Vietnam und wiederholen heute im Irak viele ihrer Fehler, die zu ihrer Niederlage in Vietnam geführt haben.
In beiden Ländern haben aufeinander folgende US-Regierungen den Rat ihrer besten Geheimdienstexperten vernachlässigt. In Vietnam hatten diese den Entscheidungsträgern in Washington geraten, nicht dort weiterzumachen, wo Frankreich gescheitert war, und die Bedingungen des Genfer Abkommens von 1955 zur Wiedervereinigung zu unterstützen. Sie warnten auch davor, die Kommunisten in ihrer Zahl, Motivation und ihren unabhängigen Beziehungen zu China und der Sowjetunion zu unterschätzen. Aber Amerikas Führer haben schon immer das geglaubt, was sie glauben wollten, und nicht das, was ihr Geheimdienst ihnen gesagt hat.
Das Pentagon hatte in den 60er-Jahren einen unerschütterlichen Glauben an seine überwältigende Feuerkraft, seine moderne Ausrüstung, Mobilität und Luftüberlegenheit. Daran glaubt es noch heute. Zudem glaubt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dass sein Militär die Technologie hat, alle Gegner in „Schock und Ehrfurcht“ („shock and awe“) zu versetzen. Aber wie in Vietnam ist der Krieg im Irak hochgradig dezentralisiert. Die Zahl der Truppen, die notwendig wäre, um Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten, steigt nur weiter, selbst bei wachsender Feuerkraft. Als in Vietnam schließlich eine halbe Million US-Soldaten stationiert waren, wandte sich die öffentliche Meinung gegen den Präsidenten und besiegte seine Partei.
Letztlich werden Kriege politisch gewonnen – oder aber gar nicht. Die Führer in Washington hielten diese Interpretation der Ereignisse in Vietnam für bizarr und ignorierten ihre Experten immer dann, wenn diese sie gelegentlich an die Grenzen der militärischen Möglichkeiten erinnerten.
Sowohl im Fall Vietnam wie im Fall Irak wurde die Öffentlichkeit in zynischer Art belogen, um sie zu mobilisieren. Dies führte zu einer „Glaubwürdigkeitslücke“. Die Bevölkerung glaubt letztlich gar nichts mehr, was ihr von Washington erzählt wurde.
Die Golf-von-Tonkin-Krise im August 1964 war fabriziert worden, wie der führende CIA-Analyst später in seinen Memoiren zugab, weil „die Administration einen Vorwand für eine größere Eskalation suchte“. Zahllose Lügen wurden während des Vietnamkriegs erzählt. Zuletzt waren viele der Männer, die sie verbreiteten, nicht mehr in der Lage, Wahrheit und Fiktion voneinander zu unterscheiden.
Viele US-Führer glaubten wirklich, dass bei einem Sieg der Kommunisten in Vietnam die „Dominosteine“ umfallen würden und ganz Südostasien unter chinesische und sowjetische Dominanz käme. Der Irakkrieg wurde damit gerechtfertigt, dass Saddam Hussein mutmaßlich Massenvernichtungswaffen und Verbindungen zu al-Qaida hat, wofür aber jeweils kein Beweis gefunden wurde.
Jetzt sind 130.000 Soldaten im Irak, doppelt so viele, wie Bush für diese Zeit vorhergesagt hatte – aber wie in Vietnam ist deren Moral schon jetzt niedrig und wird noch weiter sinken. Bushs Beliebtheit ist in den Umfragen dramatisch zurückgegangen, besonders, weil er ein großes Haushaltsdefizit angehäuft und innenpolitische Themen wie die Krankenversicherung vernachlässigt hat. Letztlich könnte dies über das Wahlverhalten 2004 entscheiden. Bush braucht im Irak dringend mehr Soldaten, und andere Länder werden sie nicht stellen. In Vietnam versuchte Nixon den Bodenkrieg zu „vietnamisieren“ und die Last auf die große Armee von Nguyen Van Thieu abzuwälzen. Die war aber demoralisiert und hauptsächlich dafür da, Thieu an der Macht zu halten. Sie sahen nicht ein, einen Krieg zu gewinnen, den die US-Truppen zu verlieren drohten.
Die „Irakisierung“ der Truppen wird den Widerstand gegen die Besatzer nicht brechen, und sie wird nicht das einbringen, was sich die Amerikaner davon versprechen. Sowohl in Vietnam als auch im Irak haben die USA die Zeitdauer unterschätzt, die sie dort bleiben müssen, und vielmehr ihre Illusionen über die Stärke ihrer Freunde gepflegt. Die irakische Armee wurde aufgelöst, wird aber jetzt zum Teil aus Saddams ehemaligen Offizieren und Soldaten wiederbelebt. Wie Vietnam, wo die Buddhisten gegen die von den Vereinigten Staaten gestützten Führer katholischen Glaubens waren, ist Irak eine regional und religiös geteilte Nation. Washington hat die nicht zu beneidende Wahl zwischen dem Risiko des Chaos, das sein eigener Mangel an Truppen wahrscheinlich macht, und einem Bürgerkrieg, wenn es Iraker bewaffnet.
Trotz zahlreicher warnender Stimmen von Experten hatte die Bush-Administration nur geringe Vorstellungen von der Komplexität der Probleme, die sie im Irak vorfinden würde. Afghanistan ist ein Beispiel dafür, wie militärische Erfolge letztendlich von Politik abhängen.
Rumsfelds Eingeständnis in seinem vertraulichen Memorandum vom 16. Oktober dieses Jahres, „uns fehlen die Parameter, um zu wissen, ob wir den globalen Krieg gegen den Terror gewinnen oder verlieren“, war ein Hinweis darauf, dass wichtige Mitglieder der Bush-Administration weit weniger zuversichtlich über ihre Taten sind als noch Anfang 2003. Aber wie in Vietnam, als Verteidigungsminister Robert McNamara aufhörte an den unvermeidlichen Sieg zu glauben, so ist es auch jetzt zu spät, den Kurs zu ändern. Jetzt geht es um die Glaubwürdigkeit von Amerikas Militärmacht.
Letztlich wird die Innenpolitik der USA alles andere dominieren. Das tat sie in Vietnam, und das wird sie im Irak tun. 1968 wandten sich die Umfragen gegen die Demokraten. Die Tet-Offensive im Februar überraschte Präsident Lyndon Johnson, weil er und seine Generäle sich geweigert hatten, den CIA-Schätzungen zu glauben, die eher von 600.000 als von 300.000 Kämpfern der Kommunisten sprachen. Nixon gewann, weil er der kriegsmüden Öffentlichkeit einen Frieden in Ehren versprach.
George W. Bush erklärte am 28. Oktober, dass „wir“ den Irak sobald nicht verlassen wollen. Aber seine Partei und seine politischen Berater werden wohl das letzte Wort haben, wenn die Zahl der getöteten US-Soldaten weiter steigt und die Umfrageergebnisse weiter fallen. Vietnam zeigte, dass die amerikanische Öffentlichkeit nur über eine begrenzte Geduld verfügt. Das stimmt noch heute. Die wahren Lektionen aus Vietnam müssen wohl noch gelernt werden.
GABRIEL KOLKO
Übersetzung aus dem Englischen: Sven Hansen