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Archiv-Artikel

„Wir brauchen mehr Tabus“

Interview STEFAN REINECKE

taz: Herr Özdemir, Sie haben nun einige Monate in den USA gelebt. Hat sich Ihr Blick auf Deutschland verändert?

Cem Özdemir: Wenn man sieht, wie viele in den USA keine Krankenversicherung haben, lernt man das deutsche Gesundheitssystem schätzen. Es gibt auch anderes – etwa wie weit uns die USA in der Migrationspolitik voraus sind.

Zum Beispiel?

Sie können in Deutschland eine x-beliebige Zeitung aufschlagen – und finden mit Sicherheit Begriffe, die in den USA ein Skandal wären. „Getürkt“ ist da noch das wenigste. Auch wenn man mich jetzt für humorlos hält – ich finde es nicht in Ordnung, eine Kultur mit Betrug zu assoziieren. Sprache ist kein Zufall. Sprache ist verräterisch.

So richtig schockiert bin ich noch nicht.

Es gibt drastischere Beispiele: Im Focus stand neulich über den Reiseunternehmer Herrn Öger „ein Türke mit deutschem Pass“. Bitte, was ist das? Ein getürkter Türke – oder was? Ich war neulich nach einem Jahr Abstinenz in einer deutschen Talkshow zum Kopftuchurteil. Mit Alice Schwarzer, der atheistischen, linken Feministin. Ich bin in der Kopftuchfrage hin- und hergerissen, aber das Spannende an dieser Sendung war nicht das Kopftuch, es war etwas anderes. Alice Schwarzer reichte es nicht, zu sagen: „Ich bin gegen das Kopftuch weil …“, sie musste darauf hinweisen, dass Frau Ludin, die seit fünf Jahren einen deutschen Pass hat, eigentlich nicht hierher gehört, weil sie ja Afghanin sei.

Da haben Sie sich aufgeregt.

Vielleicht hat Frau Schwarzer Recht mit ihren Argumenten gegen das Kopftuch – aber warum muss sie Frau Ludin verbal die Staatsbürgerschaft entziehen? Ich habe Schwarzer in dieser Sendung gefragt, was ich denn dann für sie bin. Für Leute wie mich gibt es ja das Wort „Passdeutscher“ – auch so ein Ausdruck, der in anderen Sprachen nicht existiert. Darauf sprach sie von meiner besonderen Beziehung zur Türkei. Es ist eine interessante Erfahrung, vor laufenden Kameras ausgebürgert und zum Repräsentanten der Türkei erklärt zu werden.

Was sagen Sie denn zu den Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Henry Nitzsche?

Verwunderlich ist schon, dass Herrn Nitzsche rhetorisch gelungen ist, was Bin Laden bislang vergeblich versucht hat: Er macht aus dem eher atheistischen Teilzeitmuslim, der zu Ramadan mal seine Eltern besucht, und dem Anhänger des politischen Islam kurzerhand eine Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft existiert nicht in Wirklichkeit, dafür umso lebendiger in Herrn Nitzsches Kopf. Damit ist er ein authentischer Vertreter des deutschen Reinheitsgebots. Der nächste Schritt wäre wohl die Forderung nach einem Heiratsverbot zwischen Muslimen und Christen. Der Fall Nitzsche zeigt, dass Fundamentalismus nicht nur ein islamisches Problem ist.

Wie wirkt dieser Fall in der Türkei?

Fatal. Er passt ja zu der Ablehnung der türkischen EU-Mitgliedschaft, er verhärtet das Gefühl, dass man die Türkei in Europa nicht will. In den türkischen Medien konzentriert sich die Aufmerksamkeit eher auf Nitzsche, weniger auf Distanzierungen in der CDU von ihm.

Soll Nitzsche gehen?

Ein Rücktritt bringt nicht viel. Das würde auf eine Art Redeverbot in der Union hinauslaufen. Und das verdeckt das grundsätzliche Problem eher: nämlich dass es in der Union und der deutschen Gesellschaft sehr viele gibt, die so denken wie Nitzsche. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, eine breite, offene Diskussion zu führen. Gerade die Liberalen in der Union müssen jetzt debattieren, wie sich die Union gegenüber den Migranten positionieren will.

Was hilft der Gesellschaft gegen alltägliche Diskriminierungen?

Zehn Prozent der Political Correctness der USA wären schon was wert. Es müsste darum gehen, dieses Bewusstsein zum Beispiel in der Journalistenausbildung zu verankern. In Spiegel online wurde kürzlich ein Artikel über das Zuwanderungsgesetz, bei dem es um hoch qualifizierte Migranten geht, mit einem Bild von zwei Frauen mit der Burka illustriert. Migration wird in Deutschland immer mit sozialen Problemen und fast unauflösbaren Stereotypen verbunden. Der Zugang für Leute anderer ethnischer Herkunft zur deutschen Mehrheitsgesellschaft ist ungeheuer schwierig. Die Deutschen halten sich für tolerant – aber die gefühlte und die tatsächliche Toleranz gehen grotesk auseinander. Denn es reicht offensichtlich nicht, Arbeit zu haben, Steuern zu zahlen, die Sprache zu sprechen, sich einbürgern zu lassen, um Deutscher zu sein.

Aber es gibt doch Fortschritte: das Staatsangehörigkeitsrecht, das langsam wachsende Bewusstsein, dass wir ein Einwanderungsland sind, die pädagogische Kultur, die korrekten Umgang mit Minderheiten lehrt …

… in der Theorie vielleicht …

und auch der Stand der Integration ist in Deutschland teils besser als in Frankreich oder Großbritannien. Sieht es wirklich so schlecht aus?

Leider ja. Schauen Sie mal, wie gelassen Briten mit hoch aufgeladenen kulturellen, religiösen Symbolen umgehen. Nachdem die Debatte viel früher über die Sikhs und deren Glaubensvorschriften begann – Turban auf dem Motorrad oder für Uniformträger – war das Thema Kopftuch für Muslimas nicht mehr ganz so kontrovers wie in Frankreich oder Deutschland. Eine Kopftuchträgerin auch nur verbal vor laufenden Kameras auszubürgern, wäre wohl höchstens bei der British National Party möglich. Leider ist die Bereitschaft bei uns, Unterschiedlichkeit dort auszuhalten, wo sie Menschenrechte nicht verletzt, vergleichsweise gering ausgeprägt.

Was folgt daraus für die Politik?

Alle Zukunftsdebatten in Deutschland sind reine Debatten der Mehrheitsgesellschaft. Linke Deutsche streiten mit rechten Deutschen über den Umbau des Sozialstaats oder die transatlantischen Beziehungen. Linke Deutsche streiten mit rechten Deutschen darüber, wie man mit den ungebildeten Anatoliern umgeht, die das Bildungsniveau senken. Die Migranten und ihre Nachfahren spielen dabei als aktive Teilnehmer der Debatte keine Rolle.

Sind sie nicht auch selbst dran schuld, wenn sie sich nicht beteiligen? Es gibt ja auch Selbstabschottung.

Na, das hängt schon damit zusammen, dass weder die Linke noch die Rechte die rigide Definition, wer ein Deutscher ist, in Frage stellt. Es gibt in keiner wichtigen gesellschaftlichen Position Migranten. Vergleichen Sie das mal mit angelsächsischen Ländern! Es stimmt aber auch, dass die Migranten in Deutschland es nicht geschafft haben, eine Generation von Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Die Migranten machen es der Mehrheitgesellschaft auch zu einfach, sie zu übersehen. Das ist eine zentrale Zukunftsfrage: Wie schaffen es Migranten, sich so zu organisieren, dass sie unüberhörbar werden?

Und wie geht das?

Dazu gehört, dass sich die Unternehmer aus der Migranten-Community, dass die Leute, die es „geschafft haben“, sich stärker um ihre eigenen Leute kümmern. Und es erfordert eine gewisse Abnabelung von den Herkunftsländern, dass sich die Migranten als Inländer verstehen und nicht als Menschen in der Diaspora. Da können die türkischstämmigen Migranten von den Latinos in den USA lernen. Die definieren sich als US-Amerikaner, ohne den Kontakt zu ihren Herkunftsländern abreißen zu lassen.

Was würden Sie im Bundestag nach dem reformierten Staatsangehörigkeitsrecht nun vorantreiben?

Das Antidiskriminierungsgesetz. Ich glaube nicht, dass man mit Gesetzen Rassismus beseitigen kann, aber es kann als Leitbild funktionieren. Und es kann dafür sorgen, dass es künftig keine Wohnungsanzeigen mit dem Kürzel „k. A.“ für „keine Ausländer“ gibt und keine Versicherungen, die sich offen weigern, Türken zu versichern. Das muss tabuisiert werden. Das Ziel muss die „farbenblinde“ Gesellschaft sein – dass also Religion, Ethnie, Hautfarbe, soziale Herkunft keine Rolle bei der Karriere spielen, sondern dass ausschließlich die Qualifikation zählt. Davon ist Deutschland meilenweit entfernt. Und es weiß das noch nicht einmal.

Herr Özdemir, sind Sie enttäuscht von Deutschland? Mir scheint der Ton, in dem Sie über Deutschland reden, schärfer als früher.

Ich bemühe mich um Fairness gegenüber meinem Land, wie ich Deutschland noch immer nenne. Dieselbe Fairness hätte ich aber gern gegenüber der Generation meiner Eltern und ihren Nachfahren. Ich kenne das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu bewegen. Egal was man tut – man wird nie als Bürger anerkannt.

Ist das ein neues Gefühl?

Nein. Ich brauche mich nur zu erinnern, wie oft früher der Detektiv im Kaufhaus hinter mir hergelaufen ist. Das ist eine alltägliche Erfahrung von Migranten in Deutschland. Das hat sich in den letzten 20, 30 Jahren nicht verändert.