Du küsst die richtigen Lippen

Die Strokes haben mit ihrem Debütalbum „Is this it“ dem Rock ’n’ Roll Spaß, Stil und Glamour zurückgegeben. Jetzt ist das neue Album raus: „Room on Fire“. Selbstverständlich nicht ganz so gut. Trotzdem wie eine Berührung an der empfindlichsten Körperstelle. Jedenfalls, wenn man jung ist

von HENNING KOBER

Stell dir für einen Moment vor, du bist Julian Casablancas. Dann bist du zuallererst ein Junge. Und vielleicht liegt darin schon das ganze Problem.

 Du weißt es nicht.

 Was du weißt, merkst: Du bist traurig, verdammt traurig. Du schaust aus deinem Fenster, unten lärmen ein paar Idioten durch Greenwich Village, deiner Heimat. Es ist New York. Es ist Manhattan. Du bist Superstar, bist Rock ’n’ Roll, bist Rock-’n’-Roll-Superstar. Dein Gesicht hängt an jedem Kiosk. Diese Woche wird sich das neue Album deiner Band The Strokes weltweit verkaufen, als wäre das Booklet bestrichen mit Blattgold.

 Eine Menge Mädchen schneiden sich die Zöpfe ab, weil sie wissen, dass du keine Zöpfe magst. Ihren kleinen Finger würden sie auch gleich mit abscheiden, könnten sie einen Abend mit dir verbringen.

 Tausend und tausend Jungen tragen die gleiche Kleidung wie du, vögeln ihre Freundin zu deiner Musik und glauben, in deinem Takt des Lebens zu leben. Das sind mehr Menschen, als du kennst. Courtney Love hat dir einen Song geschrieben. Du hast Methadon probiert und bist so oft um die Welt geflogen, dass dir ganz schwindlig wird, denkst du daran. Aber das alles ist jetzt egal, völlig egal. Gerade explodiert eine gemeine Tretmine in deinem Körper. Verdammte Tränen laufen über deine Wangen. Krampf, Krampf, Weinkrampf. Es ist keine Wut, dann wäre alles halb so schlimm, es ist Traurigkeit ohne einen Ausgang.

S-c-h-m-e-r-z S-c-h-m-e-r-z.

Mister Sex

Bevor am Montag in Deutschland und überall auf der Welt das neue Album der Strokes „Room on Fire“ erschienen ist, wurde viel geschrieben über die merkwürdige Traurigkeit des Julian Casablancas. Das englische Musikmagazin New Musical Express, das kaum eine Woche ohne Strokes-Geschichte auskommt, rätselte über schwarz gefärbte Haare, wochenlange Melancholie im gemeinsam mit Freund und Bandkollegen Albert Hammond Jr. bewohnten Appartement und üppigen Kummerspeck.

 Schon vor zwei Jahren, als die Strokes gerade mit ihrem Debütalbum „Is this it“ dem Rock ’n’ Roll Spaß, Stil und Glamour zurückgaben und damit selbst von Nobodys zu The Body, also der wichtigsten Band der Welt, wurden, erzählte Julian Casablancas dem britischen Star-Journalisten Chris Heath: „Es ist unheimlich, aber ich fühle, dass ich in meinem Leben oft Schmerz empfunden habe. Aus unterschiedlichen Gründen. Aber ich möchte darüber nicht so viel sprechen.“

 Hilft ja auch nicht weiter – erklär mal jemand anderem deinen Wahnsinn. Und das in einer Welt, in der jeder versucht, dem anderen seinen Wahnsinn zu erklären. Eine gigantische, anstrengende, deprimierende Zeremonie. Wirklich, wirklich geht es eh immer nur um das eine.

 Das Große.

 Die Liebe.

 Und die ist schwer, superschwer zu finden. Die begehrtesten Rock-’n’-Roll-Jungen, Mr. Sex Manhattan, Superstar Julian Casablancas zu sein, schenkt dir nicht automatisch das ersehnte Glück. Dafür klappt es bei Bandkollegen und Drummer Fabrizio Moretti ganz wunderbar. Seine Freundin heißt: Drew Barrymore. Warum lebt der eine mit dem Jungstraum, und der Freund träumt ihn nur?

 Verdammt ungerecht.

 Wer mit dem ersten Album Rock ’n’ Roll neu erfindet und davon 2,5 Millionen Stück weltweit verkauft, kann mit dem zweiten nur verlieren. Das ist ein Gesetz der Natur, und natürlich ist den Strokes mit „Room on Fire“ genau das passiert. Gitarren, Schlagzeug, Casablancas Stimme, aber keine neue Revolution, keine neuen Grundsätze, keine extra Musiker, Orchester, Hilfe von den Neptunes oder eine der anderen üblichen Spielereien. „Room on Fire“ klingt wie die Fortsetzung zu „Is this it“.

 Julian, Albert, Nick, Fab und Nikolai haben sich entschieden, das zu tun, was ihre Fans lieben, was sie lieben. Es war eine schwere Entscheidung, die Produktion brauchte mehrere Anläufe. Nigel Goderick, britischer Superstar-Produzent von Radiohead und Travis, wurde erst verpflichtet und dann zurück ins Flugzeug nach London gesetzt. Das Album schließlich doch mit Gordon Raphael, der auch beim Debüt half, eingespielt.

 Klar, natürlich würde man einem Freund, der die Strokes nicht kennt, immer zuerst das erste Album schenken, aber nur weil es Auftakt zu etwas Großem ist. An die Uridee zu glauben, weitermachen ist also verlieren und doch gewinnen. Beim Hören ist sowieso alle Theorie egal. Ich packe die CD in den Walkman, klemmen die Kopfhörer ans Ohr, Finger auf die Taste „Play“.

Eine weiße Droge

Dazu fahre ich U-Bahn, Auto oder bestelle bei Air France drei Rotwein auf einmal. Strokes gehen nur in Bewegung. Laufen wird schnelles Gehen, Zigaretten verschwinden in vier Zügen, Tanzen wird Springen.

 Die Strokes gehören zur Kategorie der weißen Drogen, sie heizen deine Gefühlszellen. Egal wie schlecht die Laune ist, die deinen Kopf stößt, bist du high on Strokes, bist du richtig unterwegs, weil du mehr du selbst bist.

 Du küsst die richtigen Lippen, sagst ein schnelles „Bye“ zu den falschen und tanzt mit deinem besten Freund im Club einen wilden Boxer. „Room on Fire“ tötet jedes „The“-Band-Plagiat, das in den letzten zwei Jahren über den Planeten kam. „Room on Fire“ sortiert die Guten von den Fremden. „Room on Fire“ wird dein neues Lieblingsalbum werden. Klickst du dir „12:51“, das vierte Lied auf der Platte, das auch als erste Single ausgekoppelt wird, ins Gehirn, fühlt sich das an wie ein kitzliger Stromschlag oder, um es den Jungs zu erklären: wie eine feuchte Berührung an der empfindlichsten Körperstelle.

Watched her as she wiped her eyes / You don’t make me sorry. Now I know /

That you never listened – Listen /

Don’t worry about it, honey /

I never needed anybody.

 So singt Julian Casablancas, und dann heißen die Titel: „You talk way to much“, „Between Love and Hate“, „Meet me in the Bathroom“, „Under Control“, „The End has no End“, „The Way it is“, „I can’t win“. Da klingt er wieder, der Teufel Traurigkeit. Fragen danach wehrt Casablancas regelmäßig ab: „Das ist privat“, erklärte er zuletzt dem NME.

 Aber man weiß auch so, dass es hier natürlich um Mädchen oder andere schöne begehrenswerte Menschen geht, die das Herz zum Schlagen, Schlagen, Überschlagen bringen und wegen denen man nun gerade diese Schmerz-Nacht durchzittern muss. Weil? Weil du vielleicht Julian Casablancas heißt oder irgendwie anders. Weil, weil deine Nerven auf das Leben und dessen Menschen fein, übersteuert reagieren und das wehtut. Weil, weil deine Mutter Miss Dänemark und dein Vater Model-Mogul ist, du ein Scheidungskind oder irgendwas anderes bist. Es gibt keine Wissenschaft, die die Seele klärt. Irgendwann fragt jemand, ob du vielleicht krank bist und Depressionen hast, aber das böse D-Wort macht alles nur schlimmer. Traurigkeit ist ein gesetzloser Bandit. Sie knüppelt dich ohne Warnung, meist aber härter, brutaler als jemals zuvor.

 Bist du Julian Casablancas, sitzt du in deinem Apartment in Greenwich Village und spielst ein bisschen auf deiner Gitarre. Bist du jemand anderes, sitzt du da oder dort und hörst vielleicht die Stimme von Julian Casablancas, der in dieser Nacht dein Soulmate ist. Du lebst noch, deine Traurigkeit bleibt ein merkwürdiges Rätsel, aber in ein paar Stunden schenken dir die Zellen, die dafür verantwortlich sind, vielleicht schon wieder Glück. Sicher ist nur: Musik ist nach der Liebe die größte Kraft im Leben, eine Welt ohne Musik wäre eine Welt, in der es viel mehr Friedhöfe gäbe. Hoffnungsvolle Menschen unter ihren Steinen. Mit Platten wie „Room on Fire“ aber geht’s noch ein bisschen weiter.