: Die endlose Suche nach Normalität
Der Antisemitismus-Vorwurf prägt, von Walser über Möllemann bis Honderich, die Debatten. Dient das der Aufklärung? Oder regiert hier die Logik des Skandals? (1)
Immer wenn vom Wunsch nach deutsch-jüdischer Normalität die Rede ist, kommt mir eine Jahre zurückliegende Episode in den Sinn. Damals stellte Micha Brumlik in München mein Buch „Mit beschränkter Hoffnung. Deutsche, Juden, Israelis“ vor. Dabei entspann sich ein öffentliches Streitgespräch. Brumlik behauptete, eine „deutsch-jüdische Normalisierung“ werde es „frühestens in hundert Jahren geben“. Ich widersprach ihm: „So lange dürfen wir nicht warten. Denn in hundert Jahren sind wir alle miteinander tot. Wir müssen versuchen, bis dahin ein menschenwürdiges, also ein normales Leben zu führen.“ Jeder möchte alles zu seinen Lebzeiten „erleben“ – einerlei, ob dies realistisch ist.
Noch heute bin ich von dem Bestreben einer deutsch-jüdischen Normalisierung beseelt, doch ich muss zugeben, die Verwirklichung dieses Wunschs lässt sich nicht erzwingen. Lässt man die jüngste deutsch-jüdische Historie, also die Zeit nach 1945, Revue passieren, dann fällt einem sogleich das eklatante Missverhältnis von realen Erfolgen und emotionalen Desastern auf. Die deutsche Seite leistete Enormes. Zunächst finanziell. Es ist leicht, die Entschädigungszahlungen als plumpen Versuch zu verhöhnen, sich durch Geld von Schuld und Verantwortung freizukaufen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass diese Gelder, insgesamt mehr als 50 Milliarden Euro, es hunderttausenden überlebenden Juden ermöglichten, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Nicht zuletzt der Staat Israel hat davon profitiert. Die DDR hat sich vor dieser materiellen Konsequenz schlicht gedrückt, Österreich entdeckt sie erst heute.
Zudem versuchen seit einem halben Jahrhundert zahllose deutsche Lehrer, Erzieher, Historiker, Journalisten, Publizisten, Künstler, Politiker, Pastoren, Gewerkschafter, Funktionäre, Wohlmeinende und Wichtigtuer durch aktive, professionelle und freiwillige unbezahlte Arbeit die deutsche Bevölkerung, vor allem die jüngere Generation, von der Verwerflichkeit des Antijudaismus zu überzeugen. Jede Friedhofsschändung, jede Verhöhnung lebender Juden, aber auch jede Misshandlung von Ausländern, Behinderten etc. ist ein Schlag ins Gesicht dieser wohlmeinenden Aufklärer.
Da die Übergriffe seit Jahren zunehmen, erscheinen die Bemühungen tragisch, ja manchen sogar vergeblich. Darüber darf die insgesamt positive Bilanz der Arbeit nicht vergessen werden: Insgesamt nehmen zumindest die antijüdischen Vorurteile der Bevölkerung zwar langsam, aber kontinuierlich ab. Im Bildungsbürgertum ebenso wie in politisch korrekten Kreisen sind antisemitische Hasskundgebungen unvorstellbar. Hier flackern die Lichterketten des guten Willens, und es erschallt der Marschtritt der Kolonnen, die sich auf dem Weg zum Aufstand der Anständigen machen. Dennoch kommt es auch in der wohltemperierten Welt des Gutmenschentums, das seine Wohnungen mit Menoroth schmückt und in seinen Mußestunden Klezmermusik lauscht, immer wieder zu Eklats, die darauf hindeuten, dass die neudeutsch-jüdische Verständigung vielfach Wunschdenken entspringt.
Die Skandale und Skandälchen entzünden sich stets aufs Neue an Büchern oder schriftlichen Manifesten. In den 80er-Jahren lief die jüdische Gemeinde Frankfurt Sturm gegen die Aufführung des Fassbinder-Zwerenz-Stückes „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Die Hebräer fühlten sich als Blutsauger verunglimpft. Juden und ihre Freunde wähnten sich auch angegriffen durch die Friedenspreisrede Martin Walsers, später dessen Buch „Tod eines Kritikers“. Zur Jahrtausendwende sorgte der jüdisch-amerikanische Politologe Norman G. Finkelstein mit seinem Buch „Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird“ für den nächsten deutsch-jüdischen Eklat. Bemerkenswerterweise erregte das Werk in den USA kein Aufsehen.
Gegenwärtig erregen sich deutsche Intellektuelle und solche, die sich als solche wähnen, über Ted Honderichs Essay „Nach dem Terror“. In einem offenen Brief hatte der eingangs erwähnte Micha Brumlik, mittlerweile Direktor des Fritz Bauer Institutes, den Suhrkamp Verlag aufgefordert, Honderichs Werk aus dem Programm zu nehmen, da das Buch und die Erklärungen des Autors als Rechtfertigung des Terrors gegen Juden und Israelis verstanden werden müssten. Nach kurzem Zögern lenkte der Verlag ein. Er verzichtet auf Neuauflagen. Rechtfertigung von Terror hat es seit je gegeben, ob bei Bakunin, Che Guevara oder Herbert Marcuse.
Die Indizierung von Honderichs Buch ist ein Symptom der Unnormalität im deutsch-jüdischen Verhältnis. Suhrkamp hatte den Essay aufgrund einer Empfehlung von Jürgen Habermas und einer eigenständigen Expertise veröffentlicht. Kürzlich hat der Verlag das Buch vom Markt genommen, nicht weil er von dessen antisemitischem Inhalt überzeugt war, sondern aus schierer Angst. Suhrkamp möchte nicht als „antisemitisch“ gelten. Doch Antisemitismus lässt sich nicht mit Feigheit niederringen. Im Gegenteil. Zivilcourage ist Grundlage für die Bekämpfung aller Vorurteile.
Das wiederholte Aufflackern des deutsch-jüdischen Disputs an Büchern ist kein Zufall. Wo Menschen fehlen, klammert man sich an Bücher. Die deutsch-jüdische Gemeinde zählt trotz ihres Wachstums durch Zuwanderung aus den GUS-Ländern lediglich 100.000 Menschen. Nur wenige Dutzend Juden verstehen es heute, sich öffentlich zu artikulieren. Viele von ihnen, auch Brumlik, sind durch die eigene oder die Verfolgungsgeschichte der Eltern traumatisiert. So wird jede Kritik, pauschale, bösartige Anschuldigungen, aber auch durchaus konstruktive Angebote zum Dialog wie das Fassbinder-Stück oder Kritik an dem Holocaust-Mahnmal in Berlin, von Juden und mehr noch von ihren ungerufenen Helfern als Antisemitismus gebrandmarkt.
Leben ist die Suche nach den richtigen Wegen. Sie lassen sich vielfach nur in Auseinandersetzungen finden. Der Völkermord an Juden darf nicht Alibi für ein Erstarren sein. Wo die Sprache aufhört, endet das Leben. Und nichts brauchen die verletzten deutschen und jüdischen Seelen mehr als Ermutigung. Die Nachkommen der Täter sind vielfach ebenso traumatisiert wie jene ihrer Opfer.
Die Schonzeit für Juden ist nicht vorbei, wie es ein Theatermann einst forderte. Normalität lässt sich nicht verordnen. Es würde der jüdischen Gemeinde gut tun, das Ghetto der Angst zu verlassen, obgleich der Antisemitismus fortbesteht – auch in Deutschland. Er lässt sich nicht mit einem Federstrich beseitigen. Juden und Nichtjuden sollten sich nicht in ihren Traumata verpuppen. Es muss wieder möglich sein, miteinander zu debattieren, ja zu streiten – ohne das Damoklesschwert des „Antijudaismus“ fürchten zu müssen. Es gilt, den Stein bergan zu rollen. Die Gewissheit, dass er irgendwann wieder herunterkommen wird, darf uns nicht am richtigen Tun hindern.
RAFAEL SELIGMANN
Die Debatte wird demnächst Y. Michal Bodemann fortsetzen