: Nur keine Panik!
Die Alten kommen. Das stimmt. Trotzdem werden die Jungen im Luxus leben. Die „demografische Katastrophe“ ist eine Einbildung. Aber sie ist nützlich – für die Reichen
Eine Schreckenszahl vagabundiert durch Deutschland. Sie dominiert alle Rentendebatten und lautet schlicht: Im Jahre 2050 wird ein Erwerbstätiger einen Rentner finanzieren müssen. Das regt düstere Fantasien an. Die Jüngeren sehen es genau vor sich: Die munteren Rentner sonnen sich auf einem Kreuzfahrtschiff vor Teneriffa, während der eigene Nettolohn nicht einmal mehr für einen Campingurlaub an der Ostsee reicht.
Da kommen Neid und Panik auf, der „Generationenkrieg“ wird ausgerufen. Plötzlich ist uns das Jahr 2050 so nah wie das nächste Wochenende. Zeitungen erkennen die neue Mode und stellen „Demografie-Redakteure“ ein. Auch die Regierung beugt sich der grassierenden Rentenangst; und weil die Zukunft so wichtig ist, will man sie keinesfalls allein erfinden. Also wurde ein Expertengremium eingeschaltet; gestern tagte die Rürup-Kommission zum letzten Mal. Mehrheitlich beschloss sie eine neue Rentenformel, zudem soll die Lebensarbeitszeit bis 2030 auf 67 Jahre steigen. Beides wird die Renten um 2 Prozentpunkte auf 40 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohns schmelzen lassen.
Angesichts dieser Emotionen, Formeln und Langfristplanungen mag es erstaunlich klingen, aber: Es gibt keine „demografische Katastrophe“, für die wir vorsorgen müssten. Das Jahr 2050 wird nicht furchtbarer als das Jahr 2003, denn die Zukunft ist längst Gegenwart. Auch jetzt schon finanziert ein Erwerbstätiger mindestens einen Nichterwerbstätigen. 82,5 Millionen Menschen leben momentan in Deutschland, aber nur 38 Millionen arbeiten als Selbstständige und Angestellte. So weisen es die jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik aus. Die Nichttätigen sind unter anderem Kinder, Rentner, Studenten, Hausfrauen und Arbeitslose. In dieser Gruppe wird es in den nächsten 50 Jahren zu Verschiebungen kommen. Die Zahl der Rentner wird steigen, dafür wird es kaum noch Arbeitslose und weniger Hausfrauen geben. Aber das sind Marginalien. Volkswirtschaftlich wichtig ist das Grundphänomen: Schon jetzt wird nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung gebraucht, um den gesellschaftlichen Reichtum zu erwirtschaften. Wir können uns also die vielen künftigen Rentner locker leisten, wenn dafür andere Gruppen arbeiten, wie Mütter und Erwerbslose, die bisher vom Berufsleben fern gehalten werden.
Nun wäre es jedoch ein Irrtum, anzunehmen, dass künftig jede Frau in die Produktion abkommandiert würde. Oh nein. Nur 49 Prozent der erwerbsfähigen Frauen werden im Jahr 2030 arbeiten. So hat es Prognos für die Rürup-Kommission geschätzt. Das bedeutet: Auch in 27 Jahren werden in Deutschland immer noch weniger Frauen berufstätig sein als heute schon in Skandinavien. Eine „demografische Katastrophe“ sieht anders aus, da wären solche Reservearmeen am Herd nicht mehr denkbar. Auch die Arbeitslosen bleiben vorerst. Prognos nimmt an, dass ihre Quote im Jahr 2020 bei 7 Prozent liegen wird; bis 2030 dürfte sie auf 4,4 Prozent sinken.
Mit einer Wirtschaftskrise sollten diese Zahlen nicht verwechselt werden. Prognos schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt bis 2030 im Durchschnitt jährlich um 1,7 Prozent wachsen wird. Gleichzeitig soll die Arbeitsproduktivität sogar um 1,8 Prozent pro Jahr steigen.
Weniger Menschen erwirtschaften also noch mehr Reichtum. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung dürfte bis 2030 von aktuell 24.100 Euro auf 39.400 Euro zunehmen. Wir werden eine unglaublich wohlhabende Gesellschaft sein, sofern kein Krieg dazwischenkommt. An Arbeitskräften wird es kaum mangeln, den Maschinen sei Dank. Um im Bild zu bleiben: Die Mittel werden mühelos dafür reichen, dass sich jeder mehrmals jährlich auf Teneriffa sonnen kann.
Wo also ist das Problem? Wieso kann eine sinnlose Generationendebatte dermaßen dominieren? Da ist zunächst die Psychologie: Es macht für die Erwerbstätigen einen emotionalen Unterschied, welche Nichterwerbstätigen sie finanzieren – ob es ein anonymer Rentner ist oder die eigene Ehefrau, die zu Hause bleibt, um die Wohnung zu putzen und die gemeinsamen Kinder aufzuziehen.
Vor allem aber toben reale Verteilungskämpfe – allerdings nicht zwischen Alt und Jung, sondern zwischen Arm und Reich. So ist es zwar eine interessante Information, dass das volkswirtschaftliche Pro-Kopf-Einkommen weiter stark zunehmen wird. Aber das bedeutet eben noch lange nicht, dass jeder real existierende Kopf gleichermaßen profitiert.
Vom Wachstum hat am meisten, wer Kapital besitzt. Ob dies nun Aktien, Geldvermögen oder Immobilien sind. Diese Eigentümer werden nicht herangezogen, um die zunehmende Rentnerschar zu finanzieren. An der „lohnzentrierten Finanzierungsweise“ der Altersbezüge rüttelt die Rürup-Kommission nicht.
Dieser Trend wird durch ein zweites Phänomen verschärft: Künftig haben wir weniger Arbeitslose und dafür mehr Rentner. Das könnte ein Nullsummenspiel sein – ein Nichterwerbstätiger wird gegen einen anderen getauscht –, aber in der realen deutschen Welt fördert es die Entsolidarisierung. Das hat mit unseren verschiedenen Versicherungssystemen zu tun. Die Arbeitslosenversicherung funktioniert wie eine Risikoversicherung. Alle Angestellten zahlen ein, aber nur eine Minderheit nimmt die Leistungen in Anspruch. Alle Arbeitnehmer unterstützen wenige. Die Rentenversicherung hingegen wird wie eine Kapitallebensversicherung betrachtet und damit auch verglichen. Die Rendite muss langfristig stimmen. Was ich heute einzahle, will ich morgen als Rentner wiederhaben, möglichst mit Zinseszins. Umverteilung ist nicht vorgesehen. „Beitragsäquivalenz“ heißt das Stichwort, das die Rürup-Kommission vielfach zitiert.
Wenn man nun die Rentenversicherung isoliert betrachtet, dann sieht es in der Tat so aus, als müssten wenige Junge viele Alte versorgen. Dann ist an eine Rendite nicht mehr zu denken. Also hat die Rürup-Kommission den Rentenbeitrag bei 22 Prozent gedeckelt und die Renten gesenkt.
Die bizarre Konsequenz: Obwohl die Zahl der Rentner steigt, werden die Lohnnebenkosten sinken, wie die Rürup-Kommission freudig prognostiziert. Denn die Arbeitslosenversicherung kann man ja ab 2020 zusammenstreichen, wenn die Vollbeschäftigung einsetzen soll. Solidarisch wäre, diese freien Mittel in die Rentenkassen umzuschichten, um dort die Altersbezüge der Ärmsten aufzupäppeln. Solidarisch wäre auch, Zinsen und andere Kapitaleinkünfte heranzuziehen, ohne dass dies die Rentenansprüche der Einzahler steigen lässt. Aber beides würde dem herrschenden Renditenprinzip widersprechen.
Mit der neuen Rentenformel kann bestens leben, wer gut verdient. Dann ist auch weiterhin eine anständige Rente zu erwarten; außerdem fällt es leicht, privat vorzusorgen. Die Verlierer sind jenes Drittel der Gesellschaft, das schon jetzt nicht genug hat, um zu sparen. Das ist keine demografische Katastrophe, sondern eine soziale.
ULRIKE HERRMANN