piwik no script img

Archiv-Artikel

Salam Pax, Warblogs und andere Online-Tagebücher

Wenn die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sein soll, so fragt sich, ob das auch in Zeiten des Internets gilt. Das Netz verschafft Zugang zu anderen Wahrheiten, anderen Meinungen. Während des Irakkriegs haben sich 55 Prozent der Internetnutzer in den USA per E-Mail über den Krieg ausgetauscht. Viele Menschen haben sich eben doch nicht nur über die Massenmedien informiert. Die BBC verzeichnete einen Zuwachs der Nutzer aus den USA um 47 Prozent, der „Guardian“ einen Anstieg um 83 Prozent.

Von FRANCIS PISANI *

BLOG“ ist die Abkürzung von „Weblog“ und bedeutet so viel wie „Internet-Logbuch“. Derartige Wortschöpfungen aus den Vereinigten Staaten verirren sich immer wieder in unseren Sprachgebrauch, und mitunter bezeichnen sie auch tatsächlich etwas Neues. Ein Blog ist ein Online-Tagebuch, das sich mit einem leicht zu bedienenden Spezialprogramm führen lässt. Man tippt einen Text in den Computer, schickt ihn ab, sobald man online ist, und schon steht er auf einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Website. Ein Blog ist ein Gemisch aus Information und Meinung. Viele enthalten Links auf Originalquellen, auf andere Blogs oder auf einen Artikel, den der Blogger kommentiert oder seinen Lesern nahe bringen möchte.

Der erste allgemein anerkannte Blog existiert seit dem 7. Oktober 1994. Geschrieben haben soll ihn der Programmierer Dave Winer, der mit „Manila“ eines der meistverwendeten Blogging-Programme entwickelt hat.

Nach dem 11. September 2001 schufen konservative Kommentatoren, denen die großen Medien nicht patriotisch genug und zu „liberal“, also zu links waren, die so genannten Warblogs. Seit dem jüngsten Krieg gegen den Irak bezeichnen „Warblogs“ ganz allgemein Tagebücher, die sich mit dem Krieg im Irak auseinander setzen.(1)

Der berühmteste Warblogger ist ein Iraker, der unter dem Blogging-Pseudonym „Salam Pax“(2) veröffentlicht. Mit spitzer Feder attackierte er zunächst Saddam Hussein, dann die Bombenangriffe der Vereinigten Staaten und nun die amerikanischen Besatzer. Salam Pax – Pax heißt sowohl auf Arabisch als auch auf Latein Friede – vermittelt anders als die meisten ausländischen Berichterstatter ein lebendiges Bild vom Leben in Bagdad vor, während und nach der Militärinvasion. Zunächst hieß es, er sei ein Agent des Regimes von Saddam Hussein, dann wurde er als CIA-Agent abgestempelt, doch sein erfrischender Blick auf die Ereignisse zieht so viele Besucher an, dass die Server, auf denen seine Seite liegt, (fast) in die Knie gehen. Sogar die großen Medien haben über ihn berichtet, und der Londoner Guardian druckt seit kurzem zweimal im Monat eine Kolumne von ihm.

Eine Reihe von Journalisten – einige waren selbst im Irak – führten ihr eigenes Warblog. Kevin Sites von CNN zum Beispiel durfte auf Geheiß seines Arbeitgebers sein Online-Tagebuch nicht weiterführen. Andere Warblogs versuchten möglichst viele Informationen über den Krieg zusammenzutragen. Die Blog-Seite „Blogs of War“, die anfangs zur Unterstützung der US-Truppen und zu pro-amerikanischen und „antifranzösischen“ Demonstrationen aufrief, attakkiert nun die Anti-G 8-Demonstranten. „Warblogs:cc“ bietet eine lange Linksammlung mit Artikeln zum Irakkrieg und Verweisen auf die „besten Warblogs“.

Und doch sollte man das Blogging-Phänomen nicht überschätzen, denn die Zahl der Leser hält sich noch sehr in Grenzen. In einem Bericht des „Pew Center“ heißt es hierzu: „Blogs stoßen bei einer kleinen Zahl von Surfern auf wachsendes Interesse, aber für die Mehrheit der Nutzer stellen sie noch keine Informations- oder Kommentarquelle dar. 4 Prozent der Amerikaner mit Internetanschluss besuchen regelmäßig Blogging-Seiten auf der Suche nach Neuigkeiten und Meinungsäußerungen. Ihre Gesamtzahl ist zu klein, um statistisch aussagekräftige Nutzerprofile erstellen zu können.“(3)

Dem Bericht zufolge diente das Internet vor allem als zusätzliche Informationsquelle, wobei unter den amerikanischen Surfern besonders viele Kriegsbefürworter waren. Allerdings betont der Bericht auch: „Die Kriegsgegner haben die Blogs etwas intensiver genutzt als die Kriegsbefürworter.“

Ross Mayfield, Chefin des Software-Unternehmens SocialText, das eine „Social Software Suite“ mit Wikis (das sind offene Hypertext-Systeme zum gemeinsamen Arbeiten an den gleichen Inhalten),(4) Weblogs und ähnlichem entwickelt, schätzt die Zahl der Blogger nach Lektüre des Pew-Center-Berichts auf knapp 3 Millionen. Im Mai 2001 waren es 500 000, ein Jahr später rund eine Million. Blogger.com, zugleich Website und Entwickler eines gleichnamigen Programms zur Erstellung von Online-Tagebüchern, verzeichnet über eine Million Blogger-Konten, der brasilianische Ableger allein bereits 300 000. Das Unternehmen wurde Mitte Februar dieses Jahres vom Suchmaschinenbetreiber Google aufgekauft.

Wichtig sind Blogs auch, insofern sie Einfluss auf andere Medien und Journalisten nehmen. So mussten die Medien bereits Nachrichten aufgreifen, die eigentlich nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollten, zum Beispiel die rassistischen Äußerungen des ehemaligen Chefs der republikanischen Mehrheit im US-Senat, Trent Lott, der im Herbst 2002 zurücktreten musste. Dan Gillmor, Star-Kommentator des San José Mercury und erster Journalist unter den Bloggern – sein Tagebuch erscheint auf der Webseite der Zeitung –, ist der Auffassung, dass „die Warblogs ein wichtiges Bedürfnis befriedigen: Sie filtern die Flut an Informationen, und sie machen es möglich, dass wir überaus wichtiges Material finden.“

Inzwischen stellen sogar die großen Medien Webspace für das einstige Randphänomen Blogging zur Verfügung (The Guardian(5), MSNBC(6). Dabei handelt es sich teils um persönliche Tagebücher, teils um Register (wörtliche Übersetzung von „log“), Notizen oder eine Mischung von allem, von interessierten Einzelpersonen oder Gruppen täglich oder gar stündlich aktualisiert.

Das Format sucht sich noch seinen Platz am Schnittpunkt von öffentlicher und privater Sphäre. Jeden Tag tauchen neue Blogging-Formen auf, „Foto-Blogs“ zum Beispiel oder „Moblogs“, mobile Blogs, die sich per Handy mit Ton-, Bild- oder Textmaterial füttern lassen. Der persönliche Ton und zahlreiche Links auf Originalquellen bilden wohl die beiden entscheidenden Merkmale eines Blogs (obwohl es wohl ebenso viele Varianten von Blogging wie Blogger gibt).

Im Phänomen Blogging setzt sich unmittelbar fort, was das Internet vor allem auszeichnet: Die horizontale „Many to many“-Kommunikation, die mit E-Mail begann und im Instant Messaging ihre Fortsetzung findet. Entscheidend ist dabei nicht so sehr, dass „die Entfernung keine Rolle mehr spielt“, als vielmehr die intensive Kommunikation zwischen Personen, die einander nicht kennen. Blogs zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Kommunikation öffentlich machen. Was die Frage aufwirft, ob Blogger Journalisten sind.

Ein wesentlicher Unterschied zum herkömmlichen Journalismus besteht freilich darin, dass die Beiträge vor der Veröffentlichung im Netz von niemandem gelesen werden. Darauf wurde auch im Rahmen einer Tagung am Seminar für Journalismus an der Universität Berkeley am 17. September 2002 hingewiesen. Es gibt keinen Redakteur, doch dafür können dank der Interaktivität die Leser eingreifen. „Sie weisen mich per Mails auf Rechtschreibfehler hin“, erzählt die Gründerin von Blogger.com, Meg Hourihan.

Nach Ansicht von Paul Grabowicz, der in Berkeley eine Vorlesung über Blogs hält, „machen die Blogger etwas, was sehr nahe an die Reportage herankommt“, obwohl das Format eigentlich eher der Chronik oder dem Editorial entspricht. „Blogs“, so Dan Gillmor, „sind Teil einer Dynamik, die zum Journalismus führt.“ Immer wieder betont er: „Unsere Leser, Zuhörer und Zuschauer wissen zusammen mehr als wir, viel mehr.“ Gillmor plädiert für einen Journalismus, der vom „Vorlesungsstil“ Abstand nimmt und sich mehr am Vorbild der „Konversation“ orientiert. Der Chefredakteur von „Salon.com“, Scott Rosenberg, meint, die Blogs folgten einer Art „Ökonomie des Ego“. Wenn er seine Gedanken veröffentlicht und Resonanz erzeugt, „fühlt er sich gut“.

Ganz anders Steven Johnson. Der ehemalige Direktor des inzwischen eingestellten Online-Magazins „Feed“ ist der Ansicht, das „eigentlich Revolutionäre am Aufkommen des Blogging habe mit Journalismus nichts zu tun. Es gehe viel eher um einen effektiveren Umgang mit Wissensbeständen. Das Interessante am Blogging ist doch, dass es sich gerade nicht um Journalismus handelt.“

Man sollte einem Blog nicht blind vertrauen, weniger noch als den etablierten Medien, von denen wir ja wissen, dass sie lügen oder Irrtümer verbreiten können. Beim Blogging können sich noch viel leichter Fehler einschleichen. Deshalb sollte man auch immer die verlinkten Quellen prüfen, die für jeden Blog einen wichtigen Glaubwürdigkeitsfaktor darstellen.

Angesichts des derzeitigen Blogging-Hypes hat Dave Winer mit dem Leiter der New York Times-Website, Martin Nisenholtz, gewettet, dass in spätestens fünf Jahren die Blogs der altehrwürdigen New York Times den Rang abgelaufen haben werden. „Die Medien“, so Winer, „werden sich tief greifend verändern. Gut informierte Menschen werden via Blogs Amateure suchen, denen sie vertrauen, und von ihnen die Information einholen, die sie brauchen.“ Dave Winer geht nicht davon aus, dass die Zeitungen verschwinden werden. Ihn interessieren ganz allgemein die Veränderungen, die die horizontalen Kommunikationsmedien in der Medienlandschaft bewirken.

Inzwischen hat sogar die Geschäftswelt das Blogging entdeckt. Der Webseiten-Designer „Ideactif“ aus Quebec hat im Januar 2000 ein kollektives Weblog ins Netz gestellt. „Wir sind ständig online“, schreibt das Unternehmen, „und oft finden wir Informationen, die nützlich erscheinen, zum Nachdenken anregen oder einfach nur amüsant sind. Das Weblog ist für uns ein einfaches und effizientes Mittel, Wissen mit anderen zu teilen.“

Blogging eignet sich auch zur betriebsinternen Wissensvermittlung. IT-Beraterin Amy Wohl meint, „mit Blogging können die Angestellten auf angenehme Weise mit einem gemeinsamen Forschungs-, Analyse- und Informationsmedium arbeiten“.

Warum sollte man mit Blogging also nicht auch Geld verdienen können? Andrew Sullivan, der bekannteste Blogger, behauptet, seine Besucherzahlen seien von „805 000 im März 2002 auf 1,88 Millionen im März 2003 gestiegen“. Das müsste sich doch in bare Münze umwandeln lassen. Für Sullivan wohl schon. Glaubt man jedoch dem Internet-Analysten Clay Shirky, sollte man sich in dieser Hinsicht keinen Illusionen hingeben. Die Veröffentlichung herkömmlicher Texte schafft einen Wert, weil sie Arbeit erfordert, aber auch weil sie eine Auswahl trifft. Das Netz im Allgemeinen und die Weblogs im Besonderen unterlaufen diesen Zusammenhang. „Sie sind ein so wirkungsvolles Medium zur Verbreitung des geschriebenen Worts, dass die traditionelle Veröffentlichung sich finanziell gar nicht mehr lohnt.“

Die erfolgreichen Blogger können auf ein bisschen Werbung auf ihren Seiten hoffen, auf die Unterstützung einer Werbeagentur oder freiwillige Spenden. Aber es wird wohl dabei bleiben, dass für die bekannteren Autoren die Veröffentlichung eines Buchs oder einer Zeitungskolumne lukrativer ist. Und was Journalisten anbelangt, die selbst ein Blog führen, so werden sie dafür nur selten bezahlt.

Ein Drama ist das nicht. „Die Zerstörung von Wert ist genau das, was Weblogs so interessant macht“, meint Shirky. „Wir wollen eine Welt, in der man ohne Hilfe oder Genehmigung schreiben und veröffentlichen kann.“ Jeder Blogger wendet sich zunächst an einen kleinen Kreis von Freunden oder Kollegen, in dem es auf „die Beteiligung am Gespräch ankommt, sie ist die eigentliche Belohnung“. So entstehen neue Netze und soziale Beziehungen.

Blogging erscheint also als eine internetspezifische Form der Erzählung. Blogs erzählen mit einem guten Schuss Narzissmus die fragmentierte und globale Geschichte unserer Zeit. Wenn die Journalisten eine Rohfassung der Geschichte schreiben, so haben die Blogger(7) offensichtlich einen Raum erschaffen, in dem die Geschichtsschreibung die ersten Silben formt.

deutsch von Bodo Schulze