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Archiv-Artikel

In Verwirrung, aber entschlossen

Wie man mit Texten der Macht und Allgegenwart des Todes trotzt und Menschen durch Worte am Leben erhält: „Party im Blitz“, Elias Canettis Anfang der Neunzigerjahre entstandene und jetzt postum veröffentlichte Erinnerungen an seine Zeit in England

von CRISTINA NORD

Elias Canetti hat in vielen Städten und Sprachen gelebt. Zur Welt kam er 1905 im Donauhafen Rustschuk. Die Sprache seiner frühen Kindheit war das Spanisch der 1492 exilierten sephardischen Juden. Im Unterricht lernte er das Französische, nach dem Umzug der Familie nach Manchester das Englische und schließlich das Deutsche, diese „spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache“. Canetti studierte es auf Drängen der Mutter, nachdem sein Vater vor der Zeit verstorben und die Familie nach Zürich übersiedelt war.

Canettis autobiografische Trilogie „Die gerettete Zunge“ (1977), „Fackel im Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985) erstreckt sich von den frühen Rustschuker Tagen bis ins Wien der Dreißigerjahre. Die leitmotivisch je einer Sinneswahrnehmung zugeordneten Bände beschreiben den Prozess einer Weltaneignung, an dessen Ende die einzig mögliche Heimat steht: die Ankunft in der Sprache und in der Literatur.

Zu Beginn der Neunzigerjahre, wenige Jahre vor seinem Tod im Jahre 1994, machte sich Canetti daran, der Trilogie einen vierten Band hinzuzufügen: „Party im Blitz“, Erinnerungen an seine Zeit in England. Dorthin emigrierte er, nachdem er 1938 kurz in Paris Station gemacht hatte. Er blieb dort, auch als der Nationalsozialismus besiegt war. „Party im Blitz“, soeben postum veröffentlicht, ist kein abgeschlossener Text, sondern eine fragmentarische, bisweilen in sich kreisende Sammlung von Porträts, die Canetti über seine Londoner Freunde und Bekannten verfasste. Über sich selbst verliert der Autor wenige Worte. Kaum etwas erfährt man über die prekären Verhältnisse, in denen er und seine Ehefrau, die Schriftstellerin Veza Canetti, zunächst zu leben gezwungen waren. Erst im Spiegelbild der kurzen Porträts nimmt auch Canetti Kontur an.

Dabei artikuliert sich zunächst ein hartnäckiges Unbehagen: „Das Schlimmste an England sind die Vertrocknungen, das Leben als gesteuerte Mumie.“ Canetti meint damit, dass seine Londoner Umgebung Kälte und Gefühllosigkeit an den Tag lege. „Distanz ist eine Hauptübung der Engländer. Sie kommen einem nicht nahe.“ Gekoppelt daran sei Hochmut, der sich auf vielgestaltige und schwer zu durchschauende Weise äußere. Zum Beispiel während der Partys: Kein Gespräch, klagt Canetti, habe bei diesen wichtigen gesellschaftlichen Anlässen je Verbindlichkeit oder Nähe erzeugt, stets hätten Rangfolgen existiert, undurchsichtige und unausgesprochene Gesetze. „Wer von nirgendsher kommt, d. h. nirgends aus England, existiert nicht, dafür wird er mit größter Höflichkeit behandelt, die umso exquisiter ist, je weniger man hinter ihm vermutet.“

Doch ist dies nur die erste, die offensichtliche Seite von „Party im Blitz“. Dahinter verbirgt sich eine ambivalentere Haltung. Je mehr sich Canetti ins Zeug legt – ob nun gegen Margaret Thatcher oder gegen T. S. Eliot –, desto mehr relativiert sich sein Urteil. Nicht zufällig lautet der erste Satz von „Party im Blitz“: „Ich bin in Verwirrung über England.“ Noch in den schärfsten Passagen – dort etwa, wo Canetti über seine Geliebte, die Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, schreibt – gibt eher er sich preis, als dass er das Objekt seiner Reflexion beschädigte. Als traurigen Akt skizziert er den Sex mit Murdoch, als „eine peinlich einseitige Geschichte, die ich gegen meine Neigung hinnahm und unbeteiligt beobachtete“. Einmal lädt er Murdoch ein, sie zu einem Treffen mit dem von ihm hoch geschätzten schottischen Adligen Aymer Maxwell zu begleiten. Sein Entsetzen darüber, dass sie, um Maxwell zu beeindrucken, eine durchscheinende Bluse trug, wird er nicht müde zu beschreiben. Es sind dies seltsame Passagen: Warum liegt Canetti so viel daran, Murdoch mit seinen Worten zu vernichten, wenn ihm doch klar sein müsste, dass seine Boshaftigkeit auf ihn, nicht auf sie zurückfällt?

Dennoch prägen sich die Verdichtungen gerade solcher Passagen ein. Während der Kriegsjahre wird das Ehepaar Canetti aufs Land umgesiedelt. Sie finden Quartier in der Ortschaft Chesham Bois, bei den Milburns, einem alten Ehepaar. Immer dann, wenn Bomben fallen, verkriechen sich die Milburns unter dem Küchentisch. Veza Canetti, ungerührt vom Geräusch der Flieger und Bomben, bereitet ihnen derweil eine Mahlzeit; „wenn Veza ihnen das Essen unterm Tisch zuschob, lappten sie es gierig wie Hunde. Die Laute ihres Schlürfens waren bis zu uns hinauf zu vernehmen. Als Hunde fürchteten sie die Aufmerksamkeit der Flieger oben nicht. Nur Menschen hatten in jeder Hinsicht zu verschwinden.“

Zu Canettis literarischem Plan gehörte es, mit seinen Texten der Allgegenwart des Todes zu trotzen. „Party im Blitz“ ist als Teil dieses Plans zu begreifen. Denn indem das Buch an die Hampstead intellectuals erinnert, bewahrt es eine untergegangene intellektuelle Szene. Wenn Canetti „Menschen durch Worte am Leben erhalten“ wollte, so ist ihm dies zweifellos gelungen – nicht nur im Fall der Milburns.

Elias Canetti: „Party im Blitz“. Hanser, München und Wien 2003, 248 Seiten, mit Abb., 17,90 €