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Archiv-Artikel

Die Dauerfälscher

Die Literatur, der Krieg und die Wirklichkeit: Norbert Gstrein hat sich mit seinem neuen Roman „Das Handwerk des Tötens“ an den Jugoslawienkrieg gewagt und einen gelungenen Roman über das Nichtzustandekommen eines Romans geschrieben

Kein Unterschied zwischen vorheriger Hetze unddem Kitsch danach

von GERRIT BARTELS

Die Wahrheit ist immer das erste Opfer des Krieges – dieser Satz gehört inzwischen zum medialen Standardrepertoire, wenn irgendwo auf der Welt wieder einmal ein Krieg beginnt. Von vielen Fernsehzuschauern und Zeitungslesern schon längst verinnerlicht, drückt er seitens der Medien vor allem ein Unbehagen an der eigenen Berichterstattung aus, ein Unbehagen, das zwischen Selbstschutz und Lamento pendelt: Schaut her, wie schwer unsere Arbeit ist! Nun könnte man denken, die Literatur hätte es da leichter. Der Stoff reichhaltiger, die Möglichkeiten der Darstellung vermeintlich größer, Fiktionen ausdrücklich erlaubt – und doch tut auch sie sich schwer mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Das beweist auch der einige Jahre zurückliegende Krieg im ehemaligen Jugoslawien, an den sich bisher nur wenige Schriftsteller aus der Region wie aus dem deutschsprachigen Raum herangewagt haben.

Bei denen, die es bislang taten, fällt auf, dass die formalen Gestaltungsmöglichkeiten doch eher gering sind. Entweder bildet ein Reporter die Hauptfigur, sozusagen als Medium zum Krieg, oder die Autoren schlüpfen gleich selbst in die Rolle von Reportern. So hat der Österreicher Gerhard Roth vor einiger Zeit mit „Der Berg“ einen verworrenen, rätselhaften Roman geschrieben, in dem ein Reporter auf der Suche nach einem serbischen Dichter ist, der Zeuge eines Massakers an bosnischen Muslimen in einer Stadt namens S. gewesen sein soll. Vor allem aber denkt man beim Thema Jugoslawienkrieg und deutschsprachige Literatur an Peter Handke, der 1996 mit seiner Reise nach Serbien versuchte, eine Gegenwirklichkeit zur Wirklichkeit der Medien herzustellen, dabei aber mit seiner einseitigen Parteinahme übers Ziel hinausschoss; und auch an die junge deutsche Autorin Juli Zeh, die sich nach Bosnien mit der Fragestellung begab, „ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an dem man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist“. In ihrem Buch „Die Stille ist ein Geräusch“ förderte sie dann einige Wahrheiten von der Oberfläche der Dinge, der Natur und der Menschen zu Tage.

Mit seinen neuen Roman „Das Handwerk des Tötens“ hat sich nun auch der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein des Jugoslawienkrieges angenommen. Mit gleich drei Journalisten als Hauptfiguren geht es in diesem Roman vor allem um die Schwierigkeiten, über diesen Krieg zu schreiben. Gstrein setzt da allein ein Zeichen mit seiner Widmung: „Zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963–1999) über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß, als dass ich davon erzählten könnte.“ Gabriel Grüner war Reporter des Sterns und starb 1999 mit seinem Kameramann und seinem Dolmetscher im Kosovo, wo sie aus einem Hinterhalt heraus erschossen wurden.

Gstrein glaubt, mit einem fiktiven Roman einem Reporter wie Grüner eher gerecht zu werden als mit einem ausschließlich dokumentarischen, er scheint einer nachträglich recherchierten Wirklichkeit allein nicht über den Weg zu trauen und nutzt die Möglichkeiten der Fiktion, des immer wieder sich selbst reflektierenden Erzählens, um vielleicht so der einen oder anderen, auch historischen Wahrheit auf die Schliche zu kommen.

Gstreins toter Reporter heißt Christian Allmayer, war wie Gstrein gebürtiger Tiroler, arbeitete bei einem Hamburger Magazin und schrieb nie etwas anderes als Reportagen über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Nach Allmayers Tod glaubt nun sein alter Innsbrucker Schulfreund Paul, ein erfolgloser Reisejournalist, in dessen Leben und Sterben endlich den Stoff für einen lang ersehnten großen Roman gefunden zu haben.

Paul allein aber reicht Gstrein als Aufschreibsystem nicht. Er stellt ihm einen Ich-Erzähler zur Seite, der ebenfalls Journalist ist, der ebenfalls liebend gern einen Roman verfassen würde und der in Hamburg eher widerwillig die Bekanntschaft von Paul macht. Gstreins Erzähler bleibt biografisch ein eher unbeschriebenes Blatt. Er fungiert hauptsächlich als Empfänger der von Paul laufend an ihn weitergegebenen Geschichten und Informationen über Allmayer. Als dessen Eckermann stellt er Fragen und äußert Zweifel am Gehörten, das oft genug aus dritter und gar vierter Hand ist. Und er wirkt angewidert von Pauls Idee, einen Roman über Allmayer zu schreiben und den Krieg lediglich auf „Plots“ abzuklopfen: „Ein Toter macht noch keinen Roman.“

Sein Hauptmotiv aber, an der ganzen Sache überhaupt dranzubleiben, ist seine Liebe zu Pauls Freundin Helena, eine gebürtige Kroatin. Helena ist im Vergleich zu den beiden noch lebenden und papieren wirkenden Reportern angefüllt mit viel echtem Leben – nicht zuletzt ihrer Familiengeschichte wegen, ihres unfreiwilligen Beteiligtseins. Für Paul stellt sie deshalb den „Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit“ dar, ein triftiger Grund wiederum für den Ich-Erzähler, sie daraus zu befreien: „Es lag an mir, sie am Leben zu halten, […] seiner Version der Geschichte doch etwas anderes entgegenzusetzen.“

Diese umständliche, mitunter statische Erzählkonstruktion macht deutlich, wie sehr Gstrein daran gelegen ist, Distanz aufzubauen zu den Grausamkeiten des Krieges, wie er bewusst versucht, Klischees zu vermeiden, wie er den Wörtern misstraut und ihre Fähigkeit, den Krieg angemessen zu beschreiben. Auch Gstrein hat Angst davor, der Wirklichkeit die Rolle des „Aases“ zuweisen, wie es einmal heißt, über das sich dann „Hyänen“ wie eben Paul und der Ich-Erzähler hermachen.

Umso bedrohlicher und konturierter schwingen sie im Text mit, die unterschiedlichsten Facetten des Krieges: die vielen Gräuel, die Söldner, die Kriegsreporter, die Freizeitsoldaten, die montags wieder zur Arbeit gingen, die Armeegeneräle, die so taten, als sei der Krieg nur ein Geschäft, die Flüchtlingslager, Panzerkolonnen und Luftangriffe. Dauernd heraufbeschworen durch die Erinnerungen aus Allmayers Umfeld, vermittelt durch die beiden Romanautoren in spe, die sie entweder auf ihren Wahrheitsgehalt abklopfen oder auf ihre Roman-Verwendbarkeit.

Insbesondere aber Allmayer wird zu einer widersprüchlichen Persönlichkeit, die sich aus haufenweise und oft genug sich selbst aufhebenden Erinnerungssplittern zusammensetzt. Seine Frau beschreibt ihn als jemand, der am Ende die Parallelwelten, in denen er sich hin und her bewegte, nicht mehr ausgehalten habe; eine Freundin stellt ihn dann wieder dar als einen Menschen, der den Krieg als Kick gesucht hat: „Er hat überhaupt erst mit dem Unsinn angefangen, weil er sich ohne die Aufregung tot gefühlt hat.“

Ein Roman über die Schwierigkeiten, diesen Krieg in Worte zu fassen

Allmayer ist einmal das bloße Klischee eines Reporters, der mit einem großen kaputten Schlitten in der Heimat rumkurvt, muskulös, mit einer Zigarre im Mund und einer Sonnenbrille auf dem Kopf; dann ist er wieder der sensible, gebrochene Mann, für den sich angesichts der Schrecken des Krieges „zwei Drittel der schönen Literatur von allein erledigen“; der sich fernhält von den Kollegen mit ihrem „Sportreportergehabe“, die mit dem Whiskyglas in der Hand von Stories und Shots sprechen. Genau so wenig aber will Allmayer mit den Jugolawien bereisenden Schriftstellern zu tun haben, diesen „treuherzigen Verseschmieden“, die ihn auf den ketzerischen Gedanken bringen, dass es „zwischen der vorherigen Hetze und dem nachträglichen Kitsch“ keinen Unterschied gibt.

Das lässt sich gut lesen als Kritik an der routinierten Kriegsberichtserstattung, die mit der Wirklichkeit so umgeht, wie es gerade gefällt und passt, die sie sich zur Not auch mediengerecht arrangiert; und als Kritik an Kollegen von Gstrein wie eben Peter Handke oder Juli Zeh (ein „deutsches Girlie“ mit Hund, das in jede Minenabsperrung absichtlich hineintappt, wird auch einmal erwähnt) mitsamt ihrem naiven Goodwill. Allmayer wirkt dann in seinen hellen Momenten wie ein Wiedergänger von Georg Laschen, dem Libanon-Reporter in Nicolas Borns Roman „Die Fälschung“ aus dem Jahr 1979. Dieser kommt sich in einem ähnlich undurchsichtigen Krieg wie ein „empfindungsloses Monstrum“ vor, beneidet die „Beat-Reporter“, weiß aber seine eigene private Wirklichkeit und die des Krieges schon lange nicht mehr zu unterscheiden – ein Dauerfälscher par excellence, ein Wirklichkeitsvermeider aus der Not heraus.

Allmayers Schlamassel wiederum kulminiert in der dramatischsten und bei aller Arrangiertheit spannendsten Szene von Gstreins Roman. In dieser hören Paul, Helena und der Erzähler ein Interview ab, das Allmayer mit einem kroatischen Frontkämpfer gemacht hat. Dabei zeigt sich, dass Allmayer in einer darauf basierenden Reportage nur die halbe Wahrheit geschildert und die eigene, möglicherweise schuldbeladene Kriegs-Involviertheit vollkommen ausgeblendet hat. Ein Scheitern schon zu Lebzeiten, vollendet im vorzeitigen Tod, dem sich das Scheitern Pauls anschließt, der zwischen Leben und Schreiben nicht mehr unterscheiden kann und schließlich Selbstmord begeht.

Hier aber tappt Gstrein, bei aller Vorsicht, die er den gesamten Roman über hat walten lassen, doch einmal in den totalen Kitsch. Er belässt es nicht mit einem bloßen, für sich allein schon genug aussagenden Selbstmord, sondern lädt diesen unnötig symbolisch auf. Neben der Leiche von Paul liegt Cesare Paveses Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“, oje, das letzte Protokoll eines Lebensuntüchtigen sowie ein Zettel, auf dem Paul Paveses letzte Tagebucheintragung notiert hat und für sich in Anspruch nimmt: „Ich werde nicht mehr schreiben.“ Das hat etwas schal Triumphierendes, denn der Sieger, wahlweise der überlebende Erzähler oder eben Norbert Gstrein selbst, geht hier nicht leer aus, sondern schreibt immerhin diesen ansonsten überaus gelungenen Roman über das Nichtzustandekommen eines Romans über einen Kriegsreporter.

Norbert Gstrein: „Das Handwerk des Tötens“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 381 Seiten, 22,90 €