: Du bist die Schönste!
Wenn eine der ältesten Städte Italiens, Ascoli Piceno, ihre Renaissance feiert: Die Giostra della Quintana ist Ausdruck jahrhundertelanger Rivalität. Das Reitturnier ist eine Art Fortsetzung der militärischen Scharmützel mit friedlichen Mitteln
von JOSEPH WEISBROD
Der verschwitzte junge Mann mit dem rotweißen Stirnband springt wie von der Tarantel gestochen auf und ruft, jede Silbe inbrünstig dehnend: „Tu sei la bellissima!“ Und wird mit einem gnädigen Lächeln der holden Adelsdame belohnt. Minuten später die nächste Signorina. Wieder schnellt der Möchtegern-Romeo von seinem Sitzplatz auf der voll besetzten Holztribüne in der altersmorschen Arena von Ascoli Piceno in die Höhe und flötet lauthals: „Du bist die Schönste!“ Aber wehe, die so umgarnte „Bellissima“ ignoriert den heißblütigen Zurufer. Dann mutiert das Kompliment unversehens zur pathetischen Schmähkanonade.
Es ist der erste Sonntag im August. Die Sonne brennt im nahezu schattenlosen Stadion auf zehntausende von Tifosi nieder, die zum Palio della Quintana von Ascoli Piceno geströmt sind. Viele Zuschauer im ovalen Rund tragen die Farben „ihrer“ Sestiere. So heißen die an dem Reitturnier teilnehmenden sechs Stadtteile der wohlhabenden Provinzmetropole Ascoli Piceno, die schon lange vor Christi Geburt ein bedeutendes Handelszentrum war und stolz für sich in Anspruch nimmt, älter als Rom zu sein.
Das Reitturnier von Ascoli wird bereits in den Stadtstatuten von 1377 erwähnt. Wie der berühmte Palio von Siena ist die Giostra della Quintana Ausdruck jahrhundertelanger erbitterter Rivalität. Der Wettbewerb mit den Nachbarvierteln, bei dem es meist um das liebe Geld ging, führte zu blutigen Fehden.
Der Palio ist eine Art Fortsetzung der militärischen Scharmützel mit friedlichen Mitteln. Und der mit Spannung erwartete Höhepunkt eines monumentalen Kostümfests, an dem rund 1.500 Ascolaner aktiv beteiligt sind.
Bereits in den Tagen zuvor stimmen die Bürger sich mit üppigen Banketts in den Hochburgen der Stadtviertel ein. Am Vorabend des großen Ereignisses bemalen sie die Brücken der Stadtteile kunst- und liebevoll mit deren Wappen. Vor der mächtigen Kathedrale von Sant Emidio, dem Schutzpatron der Stadt und der Erdbeben, empfangen die Cavalieri, die Reiter, und ihre Pferde den priesterlichen Segen.
Am Nachmittag der Quintana füllen die von vornehmen Renaissancebauten gesäumten Straßen der Stadt sich mit Würdenträgern, Ratsherren, Konsuln, Edelfräulein, Pagen, Soldaten, Rittern, Musikanten, Fahnenschwingern und Schildknappen. Eingehüllt in farbenprächtige Brokatkleider, eiserne Rüstungen, ausstaffiert mit Hüten, Schleppen, Handschuhen, hohen Stiefeln, wollenen Strumpfhosen, bewaffnet mit Trompeten, Trommeln, Armbrüsten und Fahnen, scheinen die Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder von Ascoli Piceno die Backofenhitze gar nicht wahrzunehmen. Sie schreiten mit unbewegten würdevollen Mienen im rhythmischen dumpfen Wirbel zahlloser Trommeln und durchdringender Fanfarenklänge durch die Altstadt, das „Centro storico“.
Inzwischen hat der lange, bunte historische Bandwurm sich in der Arena zum dramatischen Showdown eingefunden.
Die langen Krakenarme mit den TV-Kameras des staatlichen Fernsehsenders RAI Uno recken sich neugierig in die Höhe, um das „Torneo“, den mittelalterlichen Reiterwettstreit, live in die italienischen Wohnzimmer zu übertragen.
Anders als der außerhalb Italiens weitaus bekanntere Palio von Siena, bei dem die stundenlange Spannung auf der muschelförmigen Piazza del Campo sich wie ein kurzer Spuk in einem wilden 90-Sekunden-Ritt entlädt, ist der Palio della Quintana von Ascoli ein ausgedehnter Wettkampf. Die auserwählten Reiter sprengen einzeln in drei Durchgängen im Höllentempo mit einer etwa vier Meter langen Lanze gegen die Statue eines Mohren an. In dessen Hand ist eine Zielscheibe etwa in der Größe eines DIN-A4-Blattes befestigt, die sie in vollem Galopp möglichst präzise treffen müssen. Eine Jury vergibt Punkte für Treffsicherheit und Geschwindigkeit. Wer am Ende die meisten Punkte auf dem Konto hat, ist der gefeierte Sieger.
Das „Torneo cavalleresco della Quintana“ beginnt. Ein Cavalere nach dem anderen jagt mit der langen Lanze im angewinkelten Arm durch den engkurvigen Parcours. Kaum einer der sechs Reiter braucht länger als eine Minute für seinen halsbrecherischen Ritt. Ein Stadionsprecher verkündet nach jeder Runde die Punktzahl.
Als strahlender Held wird am Ende Luca Veneri von seiner Sestiere Piazzarola frenetisch umjubelt. Der elegante Cavaliere mit seinem geschmeidigen sardischen Pferd hat in jedem der drei Durchgänge die meisten Punkte errungen.
Nach dem Palio feiern, debattieren, tanzen, essen und trinken die Ascolaner bis tief in die warme Sommernacht hinein. Der regionale Wein, der Rosso Piceno, und das vor allem bei jungen Italienern immer beliebtere Bier fließen in Strömen. Und man delektiert sich an kulinarischen Köstlichkeiten wie den mit einer Kalb-, Huhn- Schweinefleisch- und Trüffelmischung gefüllten, in siedendem Öl frittierten Olive ascolane. Nur rund um die Kathedrale von S. Emidio ist die Stimmung nicht so ausgelassen. Denn Franco Melosso musste das Turnier wegen einer schlimmen Verletzung seines Pferdes, das mit seinem spindeldürren Vorderbein in ein Loch auf der knochentrockenen Lehmbahn getreten war, schon im zweiten Durchgang abbrechen.
Das Caffè Meletti an der Piazza del Popolo ist ein Schmuckstück unter den historischen Kaffeehäusern Italiens. Jugendstil pur: zierliche runde Tische, großflächige Spiegel, kupferne Lampenhalter, mit filigranen Schnitzereien verzierte Holztresen, Deckenfresken und marmorierte Säulen im weitläufigen Saal. Hier gibt es Meletti, das Fläschchen Anissetta, für den das Café bekannt ist. Dieser feine, köstlich duftende Anisschnaps wird aufs angenehmste an Ascoli Piceno und die „Palio della Quintana“ erinnern.
Infos: Ascoli Piceno, Piazza del Popolo 1, Tel. +39 071 33249, Fax 31966, Internet: www.diemarken.com; Italienisches Fremdenverkehrsamt (ENIT), Kaiserstraße 65, 60329 Frankfurt am Main, Telefon (0 69) 23 74 10, Fax (0 69) 23 28 94 Buchtipp: „Die Marken – Unbekanntes Italien zwischen Adria und Apennin“. Von Michael Sattler und Christiane Tolkmitt. Verlag Carinthia, Klagenfurt 2002, 272 Seiten, 18 €