: Entschlüsseln ist Nervenbalsam
aus Berlin FRIEDERIKE GRÄFF
Als Thomas Redekop und Klaus Schiller begonnen haben, Zeugnisse zu schreiben für Leute, die doppelt so alt waren wie sie, hat ihr Chef gesagt: „Diese Leute haben 50 Jahre bei uns gearbeitet. Wenn wir ihnen ihr Zeugnis schreiben, hängen sie es zu Hause an die Wand. Sie zeigen es ihren Kindern. Sie nehmen es unheimlich wichtig.“
Die Jungen haben weniger Respekt, sie hängen das Zeugnis auch nicht auf, sondern müssen sich damit bewerben. Deshalb sind sie kritischer. „Die Leute kämpfen mehr darum. Es ist schließlich das Einzige, was man nach zehn Jahren Arbeit mitnimmt“, sagt Redekop.
Vor drei Jahren hat er mit Klaus Schiller die Agentur PMS gegründet, das steht für Personalmanagement Service. Dort kann man anrufen oder sich unter zeugnistest.de melden und fragen, was die höflichen Sätze im Zeugnis bedeuten sollen. Man kann auch ein überarbeitetes Zeugnis bekommen.
Klaus Schiller und Thomas Redekop haben Shorts und kurzärmelige Hemden an, beide sind Anfang 30, beide Linguisten. Redekop trägt den Rest eines Pferdeschwanzes, Schiller den Anfang eines Vollbarts, sie haben Birkenstock-Sandalen an den Füßen und rauchen selbst gedrehte Zigaretten. „Wir arbeiten mit dem Internet“, sagt Klaus Schiller, „aber wir haben nicht dieses Start-up-Lebensgefühl. Nicht die Mac-Rechner und nicht die Silberroller.“ Man kann sich nur schlecht vorstellen, wie sie nach einem Namen für ihr Unternehmen suchen und dann Personalmanagement Service aufschreiben, weil Management nach Effizienz und Professionalität klingt. Aber man muss wohl. „Mir gefällt das Unternehmerische hier“, sagt Thomas Redekop und lässt die Birkenstocks unter seinen Stuhl fallen. „Das Schulen von Mitarbeitern, die Kooperation mit anderen Unternehmern.“
Die Agentur zieht gerade in eine ehemalige Klavierfabrik in Berlin-Friedrichshain. Im Übergangsraum stehen fünf Arbeitsplätze an gelb gestrichenen Wänden. Thomas Redekop öffnet die Tür zu den neuen Räumen, außer Beton ist wenig zu sehen. „Dort werden wir sitzen“, sagt er und zeigt nach links, „und rechts die Mitarbeiter.“ Das sind die sechs Sprachwissenschaftler, die als Honorarkräfte arbeiten. Es gibt viel Platz in diesen Räumen. Die Sorge um das Arbeitszeugnis muss eine zuverlässige Geschäftsgrundlage sein.
Die meisten Kunden wollen vor allem eines: beruhigt werden. Ist es ein gutes Zeugnis, fehlt etwas oder steht in einem nebulösen Geheimcode etwas Schlechtes über sie darin? Für 69 Euro können sie ein Arbeitszeugnis analysieren lassen, ein Schnelltest kostet 16 Euro.
Thomas Redekop sagt, dass man sich das System der Arbeitszeugnisse wie Bioleks Kochsendung vorstellen muss. Wenn er am Ende, beim Probieren, „lecker“ sagt, ist es furchtbar schlecht. Aber wenn er „Herrlich, ich könnte Sie küssen“ ruft, dann ist es richtig gut. Die Bewertungen in Arbeitszeugnissen funktionieren ähnlich. „Er erledigte die Aufgaben immer ordnungsgemäß“ steht dann dort und bedeutet: „Er war ein Bürokrat ohne Eigeninitiative.“ Oder: „Er war Neuem gegenüber stets sehr aufgeschlossen“ – was heißt: Er hat es nicht geschafft, das Ganze dann auch in die Praxis umzusetzen.
In den Zeugnissen lesen die Mitarbeiter vom PMS jetzt häufiger: „Leider müssen wir uns aufgrund der konjunkturellen Lage von unserem Mitarbeiter trennen“. Zu Beginn lag das Verhältnis zwischen Berufswechslern und Arbeitslosen bei 60 zu 40, heute ist es 50 zu 50. Mit etwas Erfahrung kann man schon am Telefon erkennen, zu welcher Gruppe der Anrufer gehört. „Die Entlassenen sind viel abhängiger. Wenn sie noch einmal etwas vom Personalchef wollen, müssen sie manchmal fast betteln“, sagt Klaus Schiller. Die Stellenwechsler sind selbstbewusster: „Ich weiß, was ich geleistet habe“, sagen sie und fordern ein anderes Zeugnis. Den anderen, die mit einer Drei kommen und nur die Vollständigkeit überprüfen lassen, möchte er sagen: „Eine Zwei ist Standard.“ Aber er sagt es nur, wenn er gefragt wird. „Es ist wie beim Gehalt, je mehr Selbstbewusstsein jemand hat, desto mehr erreicht er.“ Wenn ein Großunternehmen 3.000 Mitarbeiter entlässt, haben diejenigen, die eine bessere Note in ihrem Zeugnis haben wollen, gute Chancen. Wer reklamiert, kann durchaus ohne weitere Rücksprache eine Note hochgesetzt werden. Aber oft sind es nur eine Hand voll Leute, die mehr bemängeln als nur einen falsch geschriebenen Namen oder einen fehlenden Aufgabenbereich. „Das ist schon bitter“, sagt Thomas Redekop.
Dorothee Steingraeber sucht nach dem Tod ihres Mannes eine Stelle als Übersetzerin. Sie ist eine der Bescheidenen. „Ich stamme aus der Zeit, wo man tief gestapelt hat. Heute muss man es nicht mehr so machen. Aber diese Schere bekomme ich nicht mehr zusammen.“
Sie ist schon vor dem vereinbarten Zeitpunkt ins Café gekommen, eine Dame mit randloser Brille und schmaler Kette, sie hat die Unterlagen von PMS vor sich auf dem Tisch. Vermutlich ist sie auch bei ihrer Arbeit sorgfältig und gut vorbereitet. Aber vor allem ist sie 60 Jahre alt. Das, fürchtet sie, werden die Personalchefs denken. „Das Alter ist ein ganz großer Nachteil, deshalb müssen die Zeugnisse wirklich ordentlich sein.“ Vom Zeugnistest hat sie über das Radio erfahren und drei ihrer Zeugnisse zur Prüfung hingeschickt. Zwei waren in Ordnung, das dritte war zwar gut, aber unvollständig und hatte Rechtschreibfehler. Manches, was unter der Rubrik Auffälligkeiten erscheint, wirkt eher unauffällig: „Wir hoffen, dass Frau X rasch eine neue Anstellung findet“, könnte laut Auswertung darauf hindeuten, dass der Zeugnisgeber mit einem geschönten Zeugnis nachhelfen wollte. Am Schluss der Prüfung steht ein Hinweis, dass „Auffälligkeiten nicht zwangsläufig eine beabsichtigte oder unbeabsichtigte Einschränkung der Qualifikation bedeuten müssen“. Aber Dorothee Steingraeber leuchten die Anmerkungen ein. „Man muss alles in die Waagschale werfen, gerade in der heutigen Zeit“, sagt sie. „Je sicherer ich mich fühle, desto besser kann ich mich verkaufen.“
Die meisten Kunden von PMS sind jünger als Dorothee Steingraeber, sogar jünger als 50. Viele kommen aus der Informationstechnik oder dem kaufmännischen Bereich, die Hälfte sind leitende Angestellte. „Es sind Leute, die sehr in Bewegung und mit dem Internet vertraut sind“, sagt Klaus Schiller. Sie haben Zeugnisnoten zwischen eins und zwei, etwas eindeutig Negatives steht selten darin. Meist sind es Unvollständigkeiten oder Formfehler. Nur manchmal findet sich etwas Fatales wie bei dem Arbeitslosen, der endlich wissen wollte, ob die Bewerbungen an seinen Zeugnissen scheiterten. Die durfte er selber schreiben und benutzte immer eine Formulierung, die ihm bei einem Kollegen gefallen hatte: „Sein Verhalten gegenüber Kollegen war ohne Tadel.“ Also nicht tadellos, mussten die Personalchefs denken, und das Verhalten gegenüber Vorgesetzten war nicht erwähnt. „Als er das am Telefon erfuhr, wurde ihm natürlich übel“, sagt Klaus Schiller.
Die meisten Kunden interessieren sich nicht für die Details der Zeugnisse, sie wollen es kontrollieren lassen wie ein Auto in der Werkstatt, sie wollen sich nicht mit Motorwellen befassen. Einige argwöhnen, es stünde einer der berüchtigten Geheimcodes darin, mit denen sich Arbeitgeber die Schwächen eines Bewerbers signalisierten. Aber die sind schon lange verboten. Laut Bundesarbeitsgericht müssen Arbeitszeugnisse nicht nur wahrheitsgemäß, sondern auch wohlwollend geschrieben werden. Also bleibt dem Arbeitgeber nur die Abstufung der positiven Bewertung. „Es ist eine Verschlüsselungstechnik, kein Geheimcode“, sagt Klaus Schiller.
Eine Zeit lang hat er selbst verschlüsselt. Als Student hat er mit Thomas Redekop Zeugnisse geschrieben. Für ein Berliner Unternehmen, das innerhalb von zwei Jahren 3.000 Angestellte entlassen hat. „Es war eine Sache, über die wir uns schon Gedanken gemacht haben“, sagt er. „Wir konnten wenig daran ändern – aber das ist natürlich das Argument von vielen Leuten.“ Die Abfindungen waren hoch, das beruhigt ihn.
Das Zeugnisschreiben ist wenig kreativ, irgendwann wird es langweilig. „Es ist wie ein Handwerk“, meint Redekop, und je nach Anzahl der Zeugnisse ist es wie ein Fließbandjob. Unter den angeheuerten Zeugnisschreibern ist auch ein Schriftsteller, der die Zeugnisse wie Kurzgeschichten verfasst. „Was war er für ein toller Mitarbeiter“, schreibt er, und das geht nicht lange gut. „Ihr Schreibtalent kommt hier doch gar nicht zur Geltung“, sagt der Chef, als er ihm kündigt.
„So ist alles im Berufsleben. Klare Kritik ist sehr selten“, meint Klaus Schiller. „Zu dieser Höflichkeit passt auch der Ton der Zeugnisse.“
Als sie sich mit PMS selbstständig machen, ist nicht gleich klar, auf welcher Seite sie stehen werden. Bei den Zeugnisgebern oder bei den Zeugnisempfängern. Vorher, als sie für das Großunternehmen die Zeugnisse im Akkord geschrieben haben, fragten Bekannte von der Uni, warum sie sich zu Handlangern der Rationalisierungsmentalität machten. „Es hat sich dann auf die Seite der Empfänger hin entwickelt“, sagt Klaus Schiller. „Es ist nicht unbedingt aus einem moralischen Anspruch entstanden.“ Aber er ist ganz zufrieden damit.
„Es gibt eine Theorie in der Marktwirtschaft, nach der man Angst schüren muss und zugleich Öffentlichkeit schaffen“, beginnt Thomas Redekop. Aber dann stoppt er und man weiß nicht, ob er die Theorie nicht mag oder ob es zu lang dauern würde, sie zu erklären. Hier, bei PMS, beruhigen sie die Angst, sie müssen sie nicht schüren. Das tun die Handbücher, die Krise, das Gerede von den Geheimcodes. Redekop muss los, er nimmt seine Gitarre mit und steigt auf ein orangefarbenes Klapprad. „Das ist unser Geschäftsführer- Fahrrad“, sagt er und radelt davon.