: Kopflose Debatte
Bis heute ist Deutschland kein säkularer Staat. Statt die Rolle der christlichen Kirchen zu hinterfragen, erhitzt ein Tuch die Gemüter, ohne dass seine Bedeutung verstanden wird
Mit Spannung wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe erwartet und damit die Antwort auf die Frage: Darf die Lehrerin Fereshta Ludin künftig samt Kopftuch SchülerInnen in Baden-Württemberg unterrichten?
Wie ist das große Interesse der Öffentlichkeit an diesem Verfahren zu erklären? Geht es tatsächlich nur um ein paar Quadratzentimeter Tuch oder die Bedrohung der abendländischen Kultur durch den Islam? Um das moderne Frauenbild in Deutschland oder um gefährliche Islamisten, die den Marsch durch die Institutionen gehen wollen?
Der vielstimmige Chor rund um den Fall Ludin verdeckt, worum es im Kern tatsächlich geht. Die zentrale und bis heute nicht beantwortete Frage lautet schlicht: Will das vereinte Deutschland ein säkularer Staat sein oder nicht? Wenn ja, muss dann nicht vordringlich die Beziehung zwischen Staat und den christlichen Glaubensgemeinschaften neu definiert werden?
Warum dürfen hier christliche Glaubensgemeinschaften im Rahmen des Regelunterrichts konfessionellen Unterricht erteilen, obwohl sich Deutschland als säkular verstehen will?
Der bislang entscheidende Schritt in dieser Debatte wurde durch das so genannte Kruzifixurteil getan. In ihm wurde festgehalten, dass der Staat eine Neutralitätspflicht hat und es deshalb nicht hingenommen werden müsse, dass an öffentlichen Schulen in Bayern gängigerweise Kruzifixe in Klassenräumen hängen. Das mit großer Aufregung erwartete so genannte Kopftuchurteil müsste demnach präziserweise „Urteil zum Neutralitätsgebot des Staates und der ihn vertretenden Personen“ heißen.
Warum drückt sich die Gesellschaft vor einer offenen Debatte um diese Kernfrage und streitet umso leidenschaftlicher auf dem Nebenschauplatz Kopftuch? Scheinbar nehmen es die entscheidenden politischen Kräfte wie Parteien, Gewerkschaften und Medien hin, dass die privilegierte Stellung der christlichen Kirchen und ihre besondere Rolle in der Gesellschaft auf Ewigkeit angelegt sind. Dies kann ein Indiz dafür sein, dass ihre Politik von kirchennahen Personen dominiert wird. Etwas kommt hinzu: Eine deutschlandweite Debatte über das Neutralitätsgebot würde deutlich machen, dass in der ost- und westdeutschen Tradition zum Teil unversöhnliche Sichtweisen vorhanden sind, deren Ausgleich anstrengende und langwierige Diskussionsprozesse erforderten. Angesichts dieser großen Herausforderung fällt es der Öffentlichkeit leichter, ihre Aufmerksamkeit auf das Kopftuch zu fokussieren. Begünstigt wird diese Übersprungshandlung durch die fehlende Kompetenz der Mehrheitsgesellschaft, über unterschiedliche Kopftücher zu reflektieren.
Es gibt vielerlei Kopftücher: gegen die Hitze auf dem Feld in Anatolien, gegen die Kälte im ukrainischen Dorf. Diese Kopftücher beschäftigen in der Regel niemanden. Doch weltweit beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit der einen Sorte Kopftuch: dem als äußerliches Zeichen der Zugehörigkeit zu der politischen Ideologie der islamistischen Gesellschaftsordnung demonstrativ getragenen und gegen jede Staatsmacht verteidigten Stück Stoff.
Allerdings: Je weniger das Tuch der Kreuzberger Oma geachtet und im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts über die äußere Erscheinung betrachtet wird, umso stärker bekommen die politischen Ideologen Zulauf. Diese behaupten, dass der Islam in dieser christlichen Umwelt keine Überlebenschance habe, wenn nicht sie den Kampf mit dem hiesigen System stellvertretend für alle Muslime aufnehmen würden. Dieser Prozess wird beschleunigt, wenn die Mehrheitsgesellschaft Köpfe mit individuellen Tüchern in die Nähe der politischen Tücher treibt.
Dabei müssten viel mehr Anstrengungen unternommen werden, damit der Islam als zweitgrößte Religion in Deutschland endlich Anerkennung findet. Nämlich dort, wo es zum Beispiel um die Organisation der schweinefleischfreien Verpflegung muslimischer Bundeswehrsoldaten geht, um die Bereitstellung muslimischer Geistlicher in Krankenhäusern oder die Einführung konfessionellen Unterrichts islamischer Prägung aus Gründen der Gleichbehandlung mit den christlichen Anbietern.
Als Gewerkschafterin hoffe ich, dass Frau Ludin in Karlsruhe Recht bekommt. Der Schutz der negativen Religionsfreiheit der SchülerInnen ist keine glaubhafte Begründung für die Ablehnung dieser Lehrerin. Das Neutralitätsgebot des Staats wird heute nicht konsequent umgesetzt. Immerhin ist es christlichen Lehrerinnen nicht verboten, mit einem Kreuz am Halskettchen, oder einem Buddhisten, mit entsprechenden Anhängern im Unterricht zu erscheinen. Kommt hier der Einwurf, diese Symbole seien weniger aufdringlich als das Kopftuch, reduziert sich der Streit auf die Frage, wie groß ein religiöses Symbol sein darf.
Entscheidend ist, dass Arbeitgeber nicht allein auf Grund äußerer Merkmale behaupten dürfen, die Bewerberin vertrete islamistische, also verfassungsfeindliche Positionen und werde deshalb nicht eingestellt. Dann könnten auch kahl rasierte Bewerber mit der Begründung, sie könnten nazistisches Gedankengut vertreten, abgelehnt werden. Übrigens: Woran erkennen wir islamistische Männer? Reicht ein Vollbart als Beweis?
Auf diese Weise würde der Willkür bei Einstellungsentscheidungen Tür und Tor geöffnet. Der Arbeitgeber muss dafür Sorge tragen, dass an öffentlichen Schulen niemand verfassungsfeindliche Ideologien vertritt. Ob dies der Fall ist oder nicht, muss der Arbeitgeber mit höchster Sorgfalt beobachten. Erst wenn dies eindeutig zu beweisen ist, darf er die Person aus dem Schuldienst entfernen. Dass ist bereits jetzt gültige Gesetzeslage. Dafür brauchen wir kein Kopftuchurteil.
So betrachtet hat das Karlsruher Urteil viel mehr mit den verdrängten Fragen der Mehrheitsgesellschaft zu ihrem Verhältnis zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften, ihrer mangelnden Kompetenz im Umgang mit dem Islam und ihrer Unfähigkeit, politische Ideologien als solche zu erkennen, zu tun als mit arbeitsrechtlichen Problemen einer Lehrerin.
Das Urteil ist noch nicht gesprochen worden, aber die Gewinner des Prozesses stehen jetzt schon fest: die Islamisten. Sie haben es erneut geschafft, den falschen Eindruck zu erwecken, Muslime seien grundsätzlich Menschen, die darauf bestehen müssten, ihre Frauen mit Tüchern zu bedecken. Somit wird erneut eine konservative Interpretation des sunnitischen Islam zur allgemeinen Richtlinie aller Muslime erhoben. Es sind also diejenigen gestärkt worden, die tatsächlich für eine verfassungswidrige Gesellschaftsordnung kämpfen.
Unabhängig vom Urteil haben wir auch eine schillernde Heldin: Fereshta Ludin! Entweder in der Rolle der erfolgreichen Kämpferin für die Rechte der gläubigen Frauen oder in der Rolle der Märtyrerin. SANEM KLEFF