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Was ist Norddeutschland?

Wo liegt es und wer bewohnt es? Platt-Experte Ulf-Thomas Lesle über Spielarten, Funktion und Grenzen des Nicht-Südlichen

Nordisch, norddeutsch, niederdeutsch sind Varianten einer Geisteshaltung, einer identitätstiftenden KonstruktionWir erleben gegenwärtig, wie sich Gesellschaften neu erfinden. Diese Re-Ethnisierung hat überall an Attraktivität gewonnen

Interview: Henning Bleyl

Im Brockhaus kommt „Norddeutschland“ gar nicht vor. Zwischen „Norddeutscher Tiefebene“ und „Norden“ klafft eine Lücke: zu Recht? Fragen an den Cuxhavener Ulf-Thomas Lesle, wissenschaftlicher Mitarbeiter des im Bremer Schnoor angesiedelten „Instituts für Niederdeutsche Sprache“. Zuvor war der Philologe und Volkskundler Dramaturg am Hamburger Ohnsorg-Theater.

taz: Fühlen Sie sich als Norddeutscher?

Ulf-Thomas Lesle: Wenn ich auf dem Deich stehe und einen Horizont sehe, der durch nichts begrenzt wird: Das ist für mich Lebensqualität. Bin ich deswegen Norddeutscher? Dieser Begriff ist mir zu ungenau und zu sehr gebrochen. Zum Bild des Behaust-Seins gehört immer auch das Verschwinden von Heimat.

Was ist denn „Norddeutschland“?

Ein geographischer Raum, der vor allem durch die spannungsreiche Koexistenz zweier Sprachsysteme gekennzeichnet ist: Das standardisierte Hochdeutsche und eine ganze Reihe von plattdeutschen Dialekten. Der Grund ist, dass Norddeutschland von der „2. hochdeutschen Lautverschiebung“, die sich ab dem 6. Jahrhundert vom Süden her ausgebreitet hat, ausgeschlossen blieb.

Norddeutschland ist da, wo man – auch – Platt spricht? Dann wäre das ja ein sehr lückenhaftes Gebilde.

Auch für Menschen, die nicht Plattdeutsch sprechen, gehört dessen Existenz zu den identitätsstiftenden „kulturellen Feldern“. Einerseits ist es ein Stück erinnerte Kultur, andererseits ist das Plattdeutsche seit der politischen Romantik mit bestimmten Mentalitätsvorstellungen und Stereotypen verbunden.

Also: „Norddeutsche wohnen in Backsteinhäusern und sind wortkarg.“

In solchen Vorstellungen steckt stets ein Körnchen Wahrheit: Der Norddeutsche neigt eher zu einem pointierten Aphorismus, als dass er ausschweifend argumentiert. Und wenn Sie durch die Böttcherstraße in Bremen gehen, dann sehen Sie, was „niederdeutsche Baukunst“ ist. Zumindest in der Vorstellung des Mäzens Ludwig Roselius, der die Straße in den zwanziger Jahren bauen ließ.

Und dabei klare völkische Vorstellungen hatte ...

Sicher. Das „Niederdeutsche“ ist um die Jahrhundertwende völkisch unterfüttert worden. Auch eine Gründung wie die der Worpsweder Künsterkolonie ist ohne den „Niederdeutsch-Mythos“ gar nicht denkbar.

Und wie sah der aus?

Die Vorstellung von dem, was „niederdeutsch“ sei, ging über das rein Sprachliche weit hinaus. Mit diesem Begriff wurde eine vorbildliche rassische Herkunft imaginiert. Bei ihrer Gestaltung von Landschaft und Mensch wollen die ersten Worpsweder Maler immer auch etwas darstellen, was einzigartig ist und vorbildhaft angesichts einer Moderne, die traditions- und gesichtslos daherkommt.

Den Plattdeutsch-Begeisterten ging es bei ihrem Kampf um die „Modersprak“ auch um die Wiederbelebung einer alten Sprachquelle, die dem Verfall des Hochdeutschen Einhalt gebieten sollte. Hintergrund war die Auseinandersetzung um eine befürchtete Romanisierung der Geisteswelt.

Plattdeutsch wurde reaktiviert, um das Hochdeutsche zu schützen?

Ja. Es sollte wie eine ältere Sprach-Schwester Orientierung bieten. Die Tragweite der Wiederverschriftung des Plattdeutschen Mitte des 19. Jahrhunderts kann gar nicht hoch genug bewertet werden.

Heißt das auch, dass sich im Norden eine tendentiell nationalistischere Geisteshaltung ausgebildet hat?

In gewisser Weise schon. Es gab eine bestimmte norddeutsch-protestantische Reichseuphorie, die sich von der Stimmung im Süden unterschied.

Das Aufbegehren gegen die Moderne war im Norden auch deswegen ausgeprägt, weil es dort mit agrar-industrieller Revolution und extremer Verstädterung besonders tiefgreifende Umwälzungen gegeben hat.

Sie meinen, die plattdeutsche Parallel-Welt wurde bewusst aufgebaut, um Entwurzelungen zu kompensieren?

Ja. Und das bekam dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen völkisch-rassistischen Zug. Den nordisch-germanischen Traum von der Weltherrschaft haben die Niederdeutschen kräftig mitgeträumt.

Gibt es auch eine liberale, beziehungsweise fortschrittliche plattdeutsche Tradition?

Nein. Die Niederdeutsche Bewegung hatte antizivilisatorische, rückwärts gerichtete Argumente. Sie steht im Zeichen einer konservativen Nationalisierung, immer mit einer anti-französischen Stoßrichtung.

Wurde das Plattdeutsche als Träger einer nationalen Ideologie von interessierten Obrigkeiten unterstützt?

Zumindest gab es keine Unterdrückung. Die Niederdeutschen haben auch immer sehr stark darauf geachtet, dass sie nicht in den Geruch eines politischen Separatismus kamen. Sie knüpfen in ihrem Sprachmythos an die Vorstellung an, dass das Plattdeutsche im Mittelalter die Handels- und Verkehrssprache eines geographisch sehr viel größeren Raumes war.

Als die Beschwörung „vergangener Größe“. Welche Ausdehnung hat das plattdeutsche „Großreich“ heute?

Acht Bundesländer. Von der Oder bis Nordrhein-Westfalen, von der holländischen bis zur dänischen Grenze. Sechs Millionen Menschen bezeichnen sich als plattdeutsche Sprachnutzer.

Dabei zeigt sich eine starke Binnendifferenzierung: Die Sprachpraxis nimmt gegen Süden hin rapide ab.

Wo lebt der südlichste Platt-, beziehungsweise Norddeutsche?

Die Grenze ist die Ick-Ich-Linie. Diese Sprachscheide reicht von der polnischen Grenze über den Harz und das Münsterland bis hinein ins Rheinland.

Was ist der Unterschied zwischen „nord-“ und „niederdeutsch“?

Auf der Popularebene durchdringt sich das, denken Sie an Musikshows wie „Lieder, so schön wie der Norden“. Was phonetisch anders als Hochdeutsch klingt, gilt schon als Platt. Im Fernsehen bedient sich auch das Ohnsorg-Theater solch einer sprachlichen Zwischenform, dem so genannten „Missingsch“.

In „niederdeutsch“ schwingt etwas Ideologisches mit. Warum nennen Sie Ihr Haus nicht „Institut für norddeutsche Sprache“?

Weil das norddeutsche Sprechen auch das Hochdeutsche umfassen würde. In der Sprachwissenschaft bezeichnet „niederdeutsch“ ein feste Größe.

Und was meint „nordisch“?

Damit wird eine eher rassisch determinierte Eigenheit behauptet: die Vorstellung der „Reinheit“, des rassisch Nicht-Durchmischten.

Gibt es überhaupt noch eine norddeutsche Identität?

Die Selbstwahrnehmung, man sei vor allem „Norddeutscher“, hat heutzutage etwas Merkwürdiges. Es ist ein gedankliches Konstrukt. Aber in Zeiten der Globalisierung wächst vielerorts das Verlangen, etwas „Eigenes“ zu behaupten.

Wir erleben gegenwärtig, wie sich Gesellschaften neu erfinden, sind Zeugen der Re-Ethnisierung auf dem Balkan oder auch im Baltikum. Prozesse kollektiver Sinnstiftung im Banne ethnischer Traditionen haben überall an Attraktivität gewonnen.

Wiederholt sich heute, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, auch die Konstruktion des Norddeutschen als Identitäts-Krücke?

Ja. Es gibt einen um sich greifenden Kultur-Relativismus: In den Feuilletons sind „kollektive Identität“ und „kollektive Kultur“ zu Lieblingsvokabeln geworden. Das ist die geradezu triumphale Rückkehr einer Konstruktion, die viele prä-moderne Anteile aufweist und dem Bedürfnis dient, etwas Eigenes aufzurichten, um das andere außen vor zu halten.

Die Attraktivität des Plattdeutschen liegt für manchen Sprachnutzer heutzutage auch darin, dass er sich mit dieser unausgebauten Sprache eine komplexe Welt vom Leib halten kann.

Der Dialekt vereinfacht die Weltanschauung?

Ja.

Aber das Aufleben regionaler Traditionen und Dialekte – schon seit Ende der siebziger Jahre – hat doch auch starke grün-alternative Wurzeln.

Sicher. Stichwort „Dialekt als Waffe“, die einfache Sprache als ein Zur-Wehr-Setzen gegenüber der Macht der Arroganz. Indessen sind diese Vorstellungen weiter ausgebaut worden. Beispielsweise fordert der Germanist und vormals Linke Henning Eichberg – der sich heute der „Neuen Rechten“ zuordnet –, die Deutschen müssten sich als Minderheit begreifen, die gegen die Entfremdung in den eigenen Hirnen zu kämpfen habe.

Es gälte, sich auf Traditionen wie Heimatsprache und Brauchtum zu besinnen. Also: Die Vorzeichen haben sich seit Mitte der achtziger Jahre deutlich verändert.

Was ist daran schlecht, wenn wieder plattdeutsche Kindergärten eingerichtet werden?

Abstrakt betrachtet, gar nichts. Aber das Sprachschutz-Prinzip fördert einen Prozess der Selbst-Ethnisierung, der bestimmte Mentalitäten gebiert: Das „Eigene“ wird zum „Fremden“ in eine hierarchische Beziehung gestellt.

Aber es gibt doch keine plattdeutsche Skinhead-Szene, die „Uutlänners ruut“ skandieren würde.

Nein, dort ist das Plattdeutsche bislang nicht angekommen. Aber im Internet findet man durchaus pan-germanische Visionen, die sich an Sprache und Sprachschutz „andocken“. In Websites wie www.newhansa.netlines.com oder www.lowlands.com haben völkische Ideen ein modernes Gesicht bekommen.

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