: Nur Ussama will keine Rache
aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY
Captain John Ives sieht so aus, wie sich eine amerikanische Mutter ihren künftigen Schwiegersohn erträumt. Mit strahlenden, blauen Augen und einem smarten Lächeln steht er im Gang des ehemaligen Hauptquartiers der Baath-Partei, in dem die US-Armee ihr Verwaltungszentrum für die westirakische Stadt Falludscha eingerichtet hat. Ives, Verbindungsoffizier zwischen den Besatzungstruppen und der irakischen Stadtverwaltung, erklärt, wer hier hinter den täglichen Attacken gegen seine Männer steckt: „Das sind einfach ignorante Menschen, die nicht verstehen, dass wir ihnen Gutes bringen wollen.“
Die 250.000-Einwohner-Stadt hat sich in den vergangenen Wochen zu einem konstanten Ärgernis für die dort stationierten 13.000 amerikanischen Soldaten entwickelt. Ein halbes Dutzend Angriffe mit Kalaschnikows und Granaten zählen die Amerikaner durchschnittlich in der Woche. Neben Bagdad und dem benachbarten Ramadi zählt Falludscha damit zu den Hauptzielgebieten der militanten irakischen Operationen, denen seit dem 1. Mai über 40 US-Soldaten zum Opfer gefallen sind. Mehrere hundert Iraker wurden bei dem amerikanischen Versuch getötet, die Täter ausfindig zu machen.
Er verstehe manche dieser Iraker nicht, sagt Captain Ives. „Da sind wir vor drei Monaten mit einem Panzer über einen privaten Pkw gerollt, und der Besitzer regt sich heute immer noch darüber auf“, wundert er sich sogar. Ives hat für das Ganze auch einen schönen Ausdruck parat. Er nennt es „peacekeeping damage“, Schaden, der nun einmal entstehe, wenn die US-Armee Frieden schafft.
Ussama Saleh und seine Familie sind Opfer eines ganz anderen Falls von „friedensschaffendem Schaden“. Der 33-Jährige wohnt gegenüber der Al-Qaid-Mädchenschule, in der noch im April Soldaten der 82. US-Luftlandeeinheit stationiert waren. Langsam und mit leerem Blick erzählt er, wie der 28. April sein Leben verändert hat. Er wirkt wie ein vollkommen gebrochener Mann. Zunächst hörte der Taxifahrer an diesem Montag, wie sich eine Demonstration wütender Iraker der Schule näherte. Er verschloss Türen und Fenster. Dann hörte er die ersten Schüsse. Die Amerikaner behaupteten später, aus der Demonstration sei auf sie geschossen worden. Sie antworteten mit einem minutenlangen Sperrfeuer auf den Platz vor der Schule. Unzählige Einschusslöcher an den gegenüberliegenden Häusern zeugen noch von diesem blutigen Tag, an dem 15 Iraker erschossen und 75 verletzt wurden. An dem blauen Eingangstor zu Ussamas Haus lassen sich allein sieben zählen.
In Panik waren die Menschen damals zu Ussamas Bruder Mussana ins Nachbarhaus gerannt. Als der die Tür öffnete, wurde er mehrfach ins Bein geschossen. Ussama hörte die Kinder und Frau seines Bruders schreien und stürzte zusammen mit seinem anderen Bruder Walid aus dem Haus. Walid wurde direkt neben ihm niedergeschossen. Ussama holte das Taxi aus der Garage, um seine Brüder ins Krankenhaus zu fahren. Der Wagen wurde von 72 Schüssen durchsiebt, zwei davon streiften Ussamas Kopf, einer traf sein Bein. Als er versuchte, aus dem Auto zu steigen und zurück ins Haus zu kommen, schossen die US-Soldaten aus der Schule weiter. Ussama wurde von hinten getroffen, die Kugel blieb im Unterleib stecken. Innerhalb weniger Minuten war bei der Familie Saleh nichts mehr wie zuvor. Walid war tot, Mussanas Bein musste später amputiert werden, Ussama war Invalide, seine Mutter hatte einen Schulterschuss und das Taxi, die wichtigste Einnahmequelle der Familie, war völlig zerstört.
Am nächsten Tag durchsuchten die amerikanischen Soldaten Ussamas Haus. Es habe der Verdacht bestanden, aus dem Haus sei auf sie geschossen worden, hieß es später. Aufmachen konnte niemand, die Familie war im Krankenhaus, die US-Soldaten mussten einbrechen. Als die Salehs nach Hause kamen, war alles auf den Kopf gestellt. Gefunden hatten die Soldaten nichts. „Wie auch“, sagt Ussama, „ich habe nie eine Waffe besessen.“ Keiner hat sich seitdem von der US-Armee bei Ussama blicken lassen – keine Entschuldigung, kein Schadenersatzangebot, keine Rede davon, die Krankenhaus- oder die Reparaturkosten für das Taxi zu übernehmen.
Ussama hinkt heute. Unter seiner grauen Galabija, dem Beinkleid, verschließt ein Plastikbeutel seinen künstlichen Darmausgang, Wegen der Streifschüsse am Kopf, die Nerven zerstörten, fängt er oft zu zittern an und kann nur wenige Minuten ruhig sitzen. Er hat schon den Fernseher, die Klimaanlage und zahlreiche Möbel verkauft, um die Klinik bezahlen zu können. Zwei weitere Operationen hat er noch vor sich. „Ich war früher derjenige, der anderen Geld gegeben hat, ich kann heute doch keines annehmen“, sagt er stolz.
Captain Ives in seinem klimatisierten Büro findet die Iraker undankbar. Sie würden sich stets beschweren und die Amerikaner für alles verantwortlich machen, „obwohl wir eigentlich helfen wollen“. Sichtlich enttäuscht fügt er hinzu: „Die Iraker sagen, dass die Tasse Milch heute nicht ganz so wohl temperiert ist wie unter Saddam Hussein.“ Für Ussama stellt sich indes die Frage, wie er eine wie auch immer temperierte Milch auf den Tisch bringen soll. Wie, fragt er, soll er in Zukunft die 23 Münder stopfen, die seit dem Tod und der Verletzung seiner Brüder vollkommen von ihm abhängig sind.
Sicher, erklärt Captain Ives, seien einige Fehler gemacht worden. Gerade am Anfang hätten die US-Soldaten bei den Hausdurchsuchungen und an den Straßensperren oft falsch gehandelt. „Jetzt verstehen wir, dass es in dieser islamisch-konservativen Stadt nicht opportun ist, bei einer Hausdurchsuchung in der Frauenunterwäsche zu wühlen.“ Tatsächlich hatten die US-Truppen in den ersten Besatzungstagen viele verärgert, weil sie an Straßensperren Frauen durchsuchten oder weil sie gegen jeden Ehrenkodex der Beduinen Männer mit den Stiefeln in den Staub zwangen, bevor sie die Häuser durchsuchten. „Wir haben einen neuen Ansatz“, erklärt Captain Ives. „Heute klopfen wir an und bitten die Frauen und Kinder nach draußen zu gehen, bevor wir mit der Durchsuchung beginnen.“ Der Verbindungsoffizier beschreibt das als „langsamen Heilungsprozess“.
Als Ussama aus dem Krankenhaus kam, war er nach seinen eigenen Worten „psychologisch auf dem Nullpunkt angekommen“. Nur langsam begann er zu begreifen, was geschehen war. Aber er erholte sich jeden Tag mehr. Zum Nachdenken hatte er kaum Zeit. Das Taxi musste repariert, sein Bruder, dem das Bein abgenommen worden war, versorgt werden. Die Nachricht, die Ussama dann vor drei Tagen ereilte, warf ihn endgültig zu Boden. US-Soldaten hatten bei einer Hausdurchsuchung seinen Cousin erschossen. Später, sagt Ussama, hätten sie sich bei dem Vater entschuldigt: Sie hätten einen Fehler begangen. Doch der Tote war nicht nur Ussamas Cousin, sondern auch sein bester Freund. Er sei bisher als starker Charakter bekannt gewesen. „Heute bin ich zerstört. Sieh mich an, ich bin ein Häuflein Elend, das nicht mehr als drei Stunden Schlaf finden kann.“
Den Rest des Tages, wenn er „lebendig tot“ in seinem Haus herumlaufe, habe er manchmal darüber nachgedacht, ob er sich nicht jenen anschließen sollte, die den Amerikanern auflauern. Dabei ist der Taxifahrer kein Überbleibsel des alten Regimes. Er sei heilfroh, Saddam losgeworden zu sein. Er würde nur so denken, wie viele andere in Falludscha, die inzwischen den US-Soldaten nach dem Leben trachten. In der konservativen, von Beduinentraditionen geprägten Stadt herrscht das Konzept der Blutrache vor. „Tötet ein Soldat meinen Bruder, dann töte ich einen Soldaten“, lautet das einfache Motto, das die amerikanischen Truppen hier in eine blutige Vendetta verstrickt hat.
Ussama jedoch ist zu dem Schluss gekommen, dass er keine Rache nehmen wird. „Wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren“, sagt er. Militärische Operationen gegen die Amerikaner hält er gegenwärtig für falsch. Die Besatzer sollten mehr Zeit bekommen, das Land wieder zum Laufen zu bringen, sagt er. Sie in einen Kleinkrieg zu verstricken, erreiche nur das Gegenteil. Aber wenn es in ein paar Monaten immer noch nicht die grundlegendste Infrastruktur gibt oder eine irakische Regierung, prophezeit er, werden sich alle Iraker gegen die Besatzung erheben. Ussama selbst wird allerdings, wie er sagt, „niemals eine Waffe in die Hand nehmen“. Er hat eine einfache Rechnung aufgestellt: Sollte ihm etwas zustoßen, opfert er die 23 Menschen, die jetzt von ihm abhängig sind. Resigniert fügt er hinzu: „Als Saddam endlich weg war, haben wir so gehofft, dass unser Leben endlich eine bessere Wendung nimmt. Was für eine Ironie.“