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Archiv-Artikel

Die Risiken des unsichtbaren Smogs

Während die UMTS-Technik unaufhaltsam voranschreitet, wächst die Besorgnis über die Umweltbelastungen durch den Mobilfunk. Thomas Grasberger und Franz Kotteder präsentieren in ihrem neuen Buch den gegenwärtigen Stand des Wissens und des Unwissens

Seit einiger Zeit fällt mein Blick aus dem Fenster auf drei Sendemasten, die auf dem Dach des Hauses gegenüber errichtet worden sind. Ich nenne sie „mein Golgatha“. Die UMTS-Technik, für deren Lizenzen die Telekommunikationsunternehmen nicht weniger als 50,8 Milliarden Euro bezahlt haben, kündigt sich an.

Galgenhumor und ein diffuses Gefühl des Unwohlseins sind eher zurückhaltende Reaktionen auf die zunehmende Zahl von Sendemasten. 50.000 sind es schon jetzt bundesweit, 120.000 sollen es in den nächsten Jahren werden. Mit ihnen erhält der unsichtbare Elektrosmog ein stählernes Gesicht, das vorhandene Ängste nicht gerade besänftigt. Die Mobilfunkbetreiber bieten Mietern und Eigentümern inzwischen kostenlose Strahlenschutzmessungen in ihren vier Wänden an, um zu zeigen, dass die Grenzwerte eingehalten werden und nichts von der so erfolgreichen Technologie zu befürchten ist.

In der Regel werden die Grenzwerte wohl eingehalten, zumal sie im Vergleich mit denen in Österreich oder Osteuropa relativ hoch ausfallen. Sie sollen freilich nur die Erwärmung menschlichen Gewebes verhüten und sind nicht aufgestellt worden, um nichtthermische Wirkungen etwa auf die bioelektischen Ströme in Zellen und Gehirn durch die elektromagnetische Strahlung auszuschließen.

Solche beruhigenden Auskünfte lassen sich dem Buch „Mobilfunk“ von Thomas Grasberger und Franz Kotteder entnehmen, das auf umfassende Weise den gegenwärtigen Stand des Wissens, allerdings auch den des Unwissens zusammenfasst. Denn wie bei jeder neuen Technik ist das Gefährdungspotenzial hoch, die Zahl der sicheren Erkenntnisse allerdings rar. Das ist nach den bisherigen Erfahrungen mit menschlichen Erfindungen durchaus kein Grund zur Entwarnung. Zu Recht trägt das Buch daher den Untertitel: „Ein Freilandversuch am Menschen“.

Grasberger und Kotteder unterrichten verständlich über die Mobilfunktechnik, deren elektromagnetische Strahlung und deren niederfrequente Pulsung (die Daten werden nicht kontinuierlich, sondern in millisekundenlangen Zeitschlitzen gesendet) die wohl größten gesundheitlichen Beeinträchtigungen verursachen. Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, Kopf-, Zahn- und Kieferschmerzen, Schwächungen des Immunsystems sowie Krebs sind mögliche Folgen der Bestrahlung durch Sendemasten und Handys.

Die umfangreiche Forschung zu Mikrowellen, zu denen auch Radarwellen gehören, wird von den Autoren breit referiert, die personelle Verknüpfung von abwiegelnden Gutachtern und profitierender Industrie genüsslich ausgebreitet. Aufgelockert wird das Buch durch Reportagen über die Häufung von Krankheitsfällen in Frankreich und Spanien sowie die Aktionen deutscher Bürgerinitiativen. Nur hier erlauben sich Grasberger und Kotteder einen milden Sarkasmus. Ansonsten tragen sie der Unsicherheit des Wissens durch einen unaufgeregten, aber eindeutig engagierten Tonfall Rechnung. Das Buch hat das Zeug zum Standardwerk.

Von der Politik, das machen Grasberger und Kotteder klar, können Mobilfunkgegner wenig erwarten. Sie hat die Industrie zum teuren Lizenzkauf ermuntert und die Milliardeneinnahmen zur Senkung der Staatsschuld benutzt. Der ohnehin Not leidenden Branche nun niedrigere Grenzwerte vorzuschreiben, wäre ein Vertrauensbruch. Tatsächlich hat Kanzler Schröder im Sommer 2002 derartige Vorhaben unterbunden. Umweltminister Trittin hält Handys in geschlossenen Räumen ohnehin für gefährlicher als die Sendeanlagen. Erstere lassen sich freilich ausschalten, merken Grasberger und Kotteder an und verlangen den Schutz des Bürgers. Die Industrie müsse die Schadlosigkeit ihrer Technik nachweisen, statt bis zum Beweis des Gegenteils – das heißt: bis es eindeutige Opfer der Strahlung gibt – allein den Gesetzen des Marktes zu folgen. Schließlich schreibe die Bauordnung Hausbesitzern bis ins Detail etwa Fenster- und Türenmaße vor. Mobilfunkanlagen aber würden zu Tausenden ohne jede Baugenehmigung erstellt.

Vorerst bleibt dem Einzelnen nur, sich, so weit möglich, selbst zu schützen. Handys, das empfehlen auch Vertreter der Industrie, sollten nicht in geschlossenen Räumen oder Fahrzeugen benutzt werden: Die Geräte steigern nämlich ihre Leistung, um Wände und Decken zu überwinden. In der Nähe von Jugendlichen und Schwangeren ist das mobile Telefon zu vermeiden. Insbesondere Kinder und Jugendliche absorbieren mehr Strahlung, weil ihre Körpergröße der Wellenlänge von Mikrowellen zwischen 10 Zentimeter und einem Meter entspricht: der Körper funktioniert als Antenne. Schließlich gibt es in vielen Haushalten kleine Mobilfunksender mit beachtlichen Emissionswerten: die beliebten schnurlosen Geräte nach dem DECT-Standard. Sie strahlen Tag wie Nacht und anders als Handys stets mit voller Leistung. Golgatha kann auch bei Ihnen herumstehen. Es hat seine Annehmlichkeiten und sieht sehr unscheinbar aus. JÖRG PLATH

Thomas Grasberger/Franz Kotteder: „Mobilfunk. Ein Freilandversuch am Menschen“, 288 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 16,90 €