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Archiv-Artikel

Medizin à la Aldi

Ärztliche Versorgung muss billiger, zur Privatsache darf sie nicht werden. Denn dann drohen vor allem im Alter unterversicherte Patienten, die alle teuer zu stehen kommen

Welcher 25-Jährige denkt an seinen Heil- und Hilfsmittelbedarf nach einem Schlaganfall mit 68?

Soll der im Regen an einer Kölner Straßenbahnhaltestelle aufgelesene Obdachlose, an dessen eitrigen Füßen Haut und Strumpfreste verwachsen sind, im Hyatt-Hotel übernachten? Was soll künftig mit „hilflosen“ Personen geschehen, die laut Fallpauschalengesetz kein Recht auf einen Klinikaufenthalt haben? Fragen, die auf den ethischen Kern der aktuellen Gesundheitsdebatte zielen: Wahrt die Solidargemeinschaft dauerhaft ein Minimum an Gesundheitschancen für alle?

Ulla Schmidt versucht, neue Grenzen zwischen privat und öffentlich zu ziehen: Das Krankengeld sollen allein die Versicherten bezahlen. Die medizinische Qualität soll durch standardisierte Behandlungsleitlinien und mehr Wettbewerb erhöht werden. Der vorrangige Besuch beim Hausarzt wird durch geringere Zuzahlungen versüßt, eigenmächtige Facharztbesuche werden hingegen mit einer extra Praxisgebühr bestraft. Der Hausarzt soll kostspielige Klinik- oder Facharztbehandlungen vermeiden und unnütze Therapien unterbinden. Mehr Verwaltungsarbeit und Papierkrieg gelten demgegenüber als hinnehmbar.

Dies suggeriert mehr Bürokratie, Bevormundung durch Krankenkassen und verunsicherte Patienten. Alternativen sind jedoch nicht in Sicht: Alle Bundestagsfraktionen setzen auf Wettbewerb im Gesundheitswesen: Kassen, Ärzte, Krankenhäuser und Patienten sollen auf Basis ihrer eigenen finanziellen Interessen angehalten werden, die gesundheitlichen Ausgaben zu begrenzen. Fallpauschalen und durch Behandlungsleitlinien standardisierte Leistungspakete führen dazu, dass Kliniken und Ärzte ihren Gewinn erhöhen, wenn sie möglichst wenige gesundheitliche Leistungen pro „Behandlungsfall“ praktizieren. Ohne neue Formen bürokratischer Kontrolle führt dieser Marktmechanismus aber unweigerlich zu weniger Versorgungsqualität. Diese gemeinsame Einsicht steht hinter dem neuen Gesundheitsschmusekurs von CDU und SPD. Auch der aktuelle Protest der Medizinlobby wird sich in Wohlgefallen auflösen, wenn erkannt wird, dass auch eine Standardversorgung mit Billigprodukten mit wirtschaftlichen Extraprofiten vereinbar ist. Denn es geht nicht um die verteufelte „Staatsmedizin“, sondern eher um die Übernahme von Managementmethoden der Industrie. Vorbilder bilden Systemgastronomie und Einzelhandelsketten. Wie es in jeder Stadt Discountmärkte mit einheitlichen Produkten gibt, sollen auch Kliniken und Ärztehäuser künftig die Kostenvorteile standardisierter Dienstleistungen nutzen.

Dies muss nicht zulasten der Qualität gehen. Aldi-Waren sind oft jenen aus dem Tante-Emma-Laden überlegen, McDonald’s-Menüs nicht schlechter als jene aus der Dönerbude. Aber in einer Welt, wo die individuelle Befindlichkeit den wichtigsten Wert und der eigene Körper die letzte geheiligte Sphäre bildet, kränkt es unsere Eitelkeit, wenn wir statt persönlicher ärztlicher Zuwendung mit medizinischen Standardprodukten abgespeist werden.

Gleichwohl lassen sich wohl nur mit einer an industriellen Methoden orientierten Medizin mittelfristig jene Rationalisierungsreserven mobilisieren, die den Beitragssatzsteigerungen entgegenwirken, die durch neue medizinische Verfahren entstehen. Heute macht der Finanzierungsanteil medizinisch-technischer Leistungen etwa sechs Beitragssatzpunkte aus. Trifft auch nur ein Bruchteil der Heilsversprechen zu, die die Entwicklung künstlicher Prothesen, den Boom der Transplantations-, Gen- und Stammzellenmedizin oder die Forschung an gentechnischen Arzneimitteln begleiten, so wird sich dieser Anteil in den nächsten Jahrzehnten deutlich erhöhen.

Kurzfristig ist es aber eine Illusion, vom Schmidt’schen Maßnahmenpaket eine drastische Reduzierung der Kassenbeiträge zu erwarten. Zum einen wird der Reformplan im Gesetzgebungsverfahren absehbar zugunsten einzelner Klientelinteressen aufgeweicht. Zum anderen fehlen den heftig miteinander konkurrierenden Krankenkassen tatsächliche Anreize, die neuen Versorgungsmodelle auch entschieden zu realisieren. Denn Kassen, die zügig auf Praxisnetze von Ärzten und eine integrierte Versorgung setzen oder das Hausarztlotsensystem propagieren, verlören insbesondere zahlungskräftige Kunden an die Konkurrenz.

Deshalb dürfte die von den Christdemokraten geforderte Teilprivatisierung auf der politischen Tagesordnung verbleiben. Sie wollen die gesetzliche Krankenversicherung nach dem „Zwiebelmodell“ umkrempeln: Für alle verbindlich bliebe nur ein Kern akutmedizinischer Hilfen. Früherkennung, weite Teile der Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Vorbeugung könnten hingegen vom Einzelnen zugunsten von Beitragssenkungen abgewählt werden. Alle Behandlungen wären überdies an eine zehnprozentige Kostenbeteiligung des Patienten geknüpft. Hier liegt die entscheidende politische Wegentscheidung: Tatsächlich würden diese Maßnahmen kurzfristig deutliche Beitragssenkungen ermöglichen, mittelfristig aber höhere Krankheitskosten und weniger Lebensqualität für die Betroffenen erzeugen. Weniger Prävention, Rehabilitation und Früherkennung schaffen nämlich mehr problematische und teure Krankheitsverläufe. Schon heute ist es beispielsweise häufig schwierig, Betagte nach einem Schlaganfall für eine Rehabilitationsmaßnahme zu motivieren, die gleichwohl oft mehr Lebensqualität eröffnet und die Wahrscheinlichkeit längerer Pflegebedürftigkeit und damit verbundener Kosten senkt. Statt dies zu fördern, böte eine Kostenbeteiligung des Kranken einen Anreiz zum Maßnahmenverzicht.

McDonald’s-Menüs sind nicht unbedingt schlechter als jeneaus der Dönerbude

Ohne Pflicht zu privaten Zusatzversicherungen kommt es im CDU-Modell zudem zu problematischen Verteilungsfolgen im Alter, in dem der Bedarf nach Gesundheitsleistungen zunimmt. So steigt die Wahrscheinlichkeit, ab dem 65. Lebensjahr an einem bösartigen Tumor zu erkranken, um das Zehnfache. Außerdem trägt der medizinische Fortschritt zu einer Zunahme chronischer Krankheitsverläufe im Alter bei. Ehedem kurz- und mittelfristig tödliche Erkrankungen wie Herzinfarkt, Krebs oder Schlaganfälle können oft so weit behandelt werden, dass sich chronische Krankheitsverläufe herausbilden. Und drittens ermöglicht der Medizinfortschritt mehr Frühdiagnosen, welche Senioren länger als behandlungsbedürftig deklarieren. Diese besonderen gesundheitlichen Risiken des Alters werden in jungen Jahren unterschätzt. Welcher 25-Jährige denkt an seinen Heil- und Hilfsmittelbedarf nach einem Schlaganfall mit 68? Insbesondere Geringverdiener würden auf Leistungen verzichten, auf die sie nicht verzichten dürften. Damit steigt die Gefahr, dass die auch unter Verweis auf den demografischen Umbruch propagierte Gesundheitsreform vor allem in einer Verlagerung der Risiken und Kosten auf die künftig Älteren besteht, die häufig unterversichert wären. Paradoxes Ergebnis: Gesundheitliche Altersdiskriminierungen gewinnen just in einer alternden Gesellschaft an Bedeutung.

HARRY KUNZ