: Über das Meer in den Tod
von DOMINIC JOHNSON
Jedes Jahr, wenn in Westafrikas Sahelzone die Ernte vorbei ist, wandern Millionen von Männern aus. Sie ziehen aus den Dörfern in die Städte und nehmen eine saisonale Lohnarbeit an. Damit verdienen sie Geld für die Familie. Und das Dorf bekommt Kontakt zur großen, weiten Welt. Es ist eine alte Tradition.
Heute ist die Welt größer und weiter denn je, und die Westafrikaner begnügen sich nicht mehr mit der nächsten Metropole. Deren Slums sind ja längst schon mit Arbeitslosen überfüllt, die den Weg zurück ins Dorf scheuen – weil dort Krieg herrscht, weil lästige Streitereien und Verwandte drohen, weil man inzwischen vielleicht eine eigene Familie hat. Ein paar Jahre sparen, ein wenig Glück und die richtigen Freunde – und schon reicht es für die Fahrkarte ins Paradies. Europa, Afrikas Nachbarkontinent, ist jedes Jahr Ziel von mehr Migranten aus Afrika. Und jedes Jahr bleiben mehr von ihnen auf der Strecke.
Kenternde Boote zwischen Tunesien und Italien sind nur die letzte, schreckliche Station einer beschwerlichen Reise. Viel weiter südlich, in alten Sahara-Handelszentren wie Gao (Mali) und Agades (Niger) sammeln sich Westafrikas Migrationskandidaten. Von dort können sie nach Algerien oder nach Libyen weiter, und dann entweder nach Tunesien und schließlich nach Italien, oder nach Marokko und weiter nach Spanien beziehungsweise auf die zu Spanien gehörenden Kanaren.
Die Fahrt durch die Wüste, meist im Lastwagen oder im Toyota-Geländewagen, ist voll Tücken. Man braucht die richtigen Papiere – Algerien verlangt von den meisten afrikanischen Ländern gültige Visa, Libyen nicht. Man braucht einen Fahrer, der nicht bei der ersten Schwierigkeit die Passagiere zum Aussteigen auffordert und behauptet, das Ziel sei gleich hinter der nächsten Düne zu Fuß zu erreichen.
Es ist ein lukratives Geschäft. Nach einem Bericht des in Frankreich lehrenden Arabisten Ali Bensaad über den Menschenschmuggel von Niger nach Libyen nehmen die Transsahara-Händler bis über 2.000 Euro pro Passagier und quetschen dann 80 Menschen auf die mit Waren vollgepackte Ladefläche. „Kathedralen-Lastwagen, auf denen sich Menschen über Waren türmen“, nennt er die Fahrzeuge, deren Insassen dann bei jeder Polizeikontrolle Schmiergeld lassen müssen.
Wer nicht zahlen kann, hat Pech. Erst letzte Woche klagte Ghanas Botschaft in Libyen, in der ersten Jahreshälfte 2003 seien 200 Ghanaer in der libyschen Wüste verdurstet. Im Mai 2001 fanden Reisende in der libyschen Wüste einen Lastwagen aus Niger, der sich drei Monate zuvor verirrt hatte. Inhalt: 140 Leichen. Algerien verhaftet regelmäßig Migranten in seiner Wüstenmetropole Tamanrasset und setzt sie 600 Kilometer südlich an der Grenze zu Mali wieder aus.
Wer die Wüste durchquert, ist noch nicht am Ziel. Die Städte der nordafrikanischen Transitländer Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen sind voll mit Schwarzafrikanern. In Marokko halten sich zahlreiche Migranten in den Wäldern rings um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla auf und hoffen darauf, irgendwann durch den Zaun zu schlüpfen. Beim Warten auf die Weiterreise nehmen viele jeden Job an, bis hin zu Prostitution und Drogenhandel. Der Rassismus der Maghrebiner gegenüber Schwarzafrikanern ist groß. Im Herbst 2000 gab es in Libyen Pogrome gegen Schwarzafrikaner, denen mehrere hundert Menschen zum Opfer fielen.
Die Transsahara-Route ist die bekannteste der afrikanischen Migrationsrouten, aber nicht die einzige. Viele der dieser Tage im Mittelmeer vor Italiens Küste aufgefundenen Afrikaner stammen aus Somalia. Sie kommen über das Rote Meer und Ägypten. Der Zustand Somalias, das seit zwölf Jahren keine Zentralregierung mehr hat, macht Ausreisekontrollen unmöglich. Tausende somalische Kinder werden jährlich unbegleitet nach Europa geschickt, in der Hoffnung auf Asyl. Bevorzugtes Ziel: London.
Die Abschottung Europas wird zugleich immer perfekter. Seit Sommer 2002 überwacht Spanien die marokkanische Küste – was dazu führt, dass immer mehr Migranten auf die Kanarischen Inseln ausweichen. Mit ihren Maghreb-Assoziationspartnern praktiziert die EU die Offensivverteidigung: So wird Algerien aufgefordert, für Europa seine Südgrenze dicht zu machen.
Libyen hingegen, das reichste Land Nordafrikas, gilt als letztes Schlupfloch. Nach den Pogromen von 2000 hat sich der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi Mühe gegeben, seinen Ruf bei den südlichen Nachbarn wieder aufzupolieren. Er praktiziert eine relativ offene Einwanderungspolitik für Schwarzafrikaner und ist gleichzeitig durch keinerlei Abkommen an Europas Einwanderungspolitik gebunden. Italiens Innenminister Giuseppe Pisanu sagte am Wochenende: „Libyens panafrikanische Politik ist ein ernstes Problem. Wir müssen Libyens Grenzen schließen. Das kann Europa machen.“
Es liegt nicht nur an der Tradition, dass trotz der immer größeren Risiken die Emigration aus Afrika nach Europa zunimmt. In einer der wenigen empirischen Studien zum Thema hat das britische Sussex Centre for Migration Research, das mit Universitäten in Ghana und der Elfenbeinküste zusammenarbeitet, die Vorteile der Emigration für Ghana erforscht: Haushalte, deren Geldverdiener Zeit in der Ferne verbracht hatten, schafften im Laufe der 90er-Jahre schneller den Aufstieg aus extremer Armut als solche ohne Migration in der Familie. Haushalte mit Angehörigen außerhalb Afrikas waren nicht nur die reichsten, sondern ihr Wohlstand wuchs im Untersuchungszeitraum auch am schnellsten. Einzig bei Haushalten, die von Rückkehrern geführt wurden, nahm die Armut zu.
Also: Emigration nach Übersee ist gut – Rückkehr ist schlecht. Die saisonale Wanderung wird ersetzt durch die dauerhafte Trennung von Familien. Moderne Technologie ermöglicht es ja, dass die Angehörigen trotzdem miteinander in Kontakt bleiben. Der prekäre Status von Illegalen in Europa trägt zur Verlängerung der Migration bei: Wer es einmal geschafft hat, bleibt.
So steigen die Überweisungen afrikanischer Emigranten in ihre Heimat ständig, laut Weltbank von 2 Milliarden Dollar 2000 auf 2,4 Milliarden 2001 und 4 Milliarden im vergangenen Jahr, davon rund die Hälfte nach Nigeria. Zum Vergleich: Die Auslandsinvestititionen in Afrika betrugen im Jahr 2002 7 Milliarden Dollar, staatliche Entwicklungshilfe wurde in Höhe von 10,4 Milliarden Dollar geleistet.
Den 4 Milliarden Dollar Migrationseinnahmen stehen jedoch 4 Milliarden Dollar gegenüber, die Afrikas Regierungen jährlich für Gehaltszahlungen an nichtafrikanische Experten ausgeben, die die Auswanderer ersetzen. Jedes Jahr verlassen nach ghanaischen Schätzungen rund 70.000 hochqualifizierte Afrikaner den Kontinent und fehlen dann im lokalen Bildungs- und Gesundheitswesen, in Industrie und Verwaltung.
Senegals Präsident Abdoulaye Wade forderte angesichts dessen kürzlich, es brauche nicht nur Europa eine Einwanderungspolitik, sondern auch Afrika eine Auswanderungspolitik. Afrikanische Politiker, die die Fernsehbilder ihrer toten Landsleute im Mittelmeer sehen, dürften dem zustimmen.