: Mehr intervenieren, nicht weniger
Was sollte Europa von Deutschland erwarten? Ich kann nicht für Europa sprechen oder für die britische Regierung. Allerdings bin ich, wie Sie wissen, inzwischen ziemlich vertraut mit den Ansichten der Regierung wie auch denen des britischen Premierministers.
(…) Als Freunde sind wir entschiedene Befürworter des Reformprogramms von Bundeskanzler Schröder. Er liegt richtig und ist mutig, diese Reformen zu verfolgen. (…) Aber ich will ein anderes Feld ansprechen, wo Deutschland zählt. Eigentlich hatten wir uns daran gewöhnt, in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik nicht zu viel von Deutschland zu erwarten – nicht zuletzt weil wir gewohnt waren, dass Deutschland uns bittet, nicht zu viel zu erwarten. Doch mein Eindruck ist: Deutschland ist erwachsen geworden unter Gerhard Schröder. Deutschland ist nicht nur bereit, an Militäroperationen teilzunehmen, wie die Beispiele Kosovo und Afghanistan zeigen. Deutschland ist auch, wie wir gerade erst gesehen haben, bereit, gegen seine engsten Verbündeten zu argumentieren. (…)
Das war ein ehrlicher Unterschied in der Sichtweise, und jetzt sollten wir ein selbstbewussteres Deutschland begrüßen. Solches Selbstbewusstsein bei Europas größter Nation ist schließlich nicht zuletzt die Voraussetzung für jeden echten Sprung nach vorne im internationalen Anspruch und Einfluss der EU.
Die Frage ist, worauf Deutschland sein Gewicht und seinen Einfluss verwendet.
Bisher ging die Sicherheitspolitik der EU kaum über Großbritannien plus Frankreich hinaus (und allzu oft beschränkte sie sich auf Großbritannien minus Frankreich). Krass gesagt haben die Briten und Franzosen das Maximum ihrer Möglichkeiten ausgeschöpft, Europas internationalen Einfluss zu befördern. Deutschland ist also auf diesem Gebiet Europas einzige wesentliche Quelle für einen Machtzuwachs. Wie Deutschland sich entscheidet in der Frage nach Europas Rolle in der Welt, könnte also leicht entscheiden, ob Europa in der Außen- und Verteidigungspolitik vereint oder gespalten ist.
Kanzler Schröder sagte vor kurzem, die Wahl zwischen Europa und der transatlantischen Partnerschaft sei keine Option. Amen – wenn er damit meint, was wir in Großbritannien denken, dass er meint: Partnerschaft, nicht Rivalität.
Tatsache aber ist: Deutschland steht hier tatsächlich vor einer Entscheidung. An der Härte dieser Entscheidung ändert sich auch nichts durch eifrigen Gebrauch von Friede-Freude-Eierkuchen-Vokabular wie Multilateralismus, Multipolarität, Transatlantizismus oder Partnerschaft. Letztlich werden unterschiedliche Leute darunter immer unterschiedliche Dinge verstehen.
Meiner Ansicht nach steht Deutschland vor drei Schlüsselfragen, die darüber entscheiden werden, ob es in der EU eine Konstellation für eine aktivistische Außenpolitik geben wird:
Erstens steht Deutschland vor der Wahl zwischen den zwei Konzepten: „Gleichgewicht der Kräfte“ oder „Politik der Koalitionen“?
Wir alle – und sogar Richard Perle – wollen ein Europa, das sich mehr hard power zulegt. Doch die wirkliche Frage hinter der vorwiegend englisch-französischen Debatte um multipolare versus multilaterale Visionen für die künftige Rolle der EU ist eine andere: Was hoffen wir instinktiv mit dieser erweiterten Macht zu tun – Amerika einzuschränken oder zu unterstützen?
Die Antwort darauf hängt davon ab, ob man die USA im Grundsatz für eine gute oder eine gefährliche Hypermacht hält. Die Sicht Großbritanniens ist klar. Wir setzen auf eine einige und geschlossenere EU, die mit den Vereinigten Staaten kooperieren, die internationalistischer sind. Wir stimmen also Joschka Fischer zu, wenn er wie jüngst in einem Spiegel-Interview sagt: „Die Macht der USA ist potenziell eine Kraft für das Gute in der Welt.“
Wir sind Realisten: Natürlich wird es Meinungsverschiedenheiten geben, die über Kompromisse auf beiden Seiten gelöst werden müssen. Gleichzeitig sehen wir jedoch für Europa in der vorhersehbaren Zukunft keine Aussicht, genügend raw power aufzubringen, um die USA davon abzuhalten etwas zu tun, was sie entschlossen sind zu tun. Wir sehen daher wenig Alternativen zu einer Koalitionsbildung mit den USA. Schließlich akzeptieren die Deutschen das in der Innenpolitik und innerhalb der EU selbstverständlich.
Im Nachhall des erhitzten Streits über den Irak häufen sich allerdings die Signale, dass zumindest manche in Deutschland versucht sind, den gaullistisch-chiracschen Glauben zu unterstützen – das heißt, einen Ansatz gegenüber den USA, der vom „Gleichgewicht der Kräfte“ ausgeht und annimmt, die Vereinigten Staaten sowohl zwingen zu können, die europäische Sicht stärker zu berücksichtigen, als auch die Welt irgendwie zu einem besseren und sichereren Platz zu machen.
Für ein Land, das sich selbst als Apostel des postmodernen Staates sieht und die EU als Modell für internationale Beziehungen, wäre es ausgesprochen seltsam, einen solchen Ansatz zu übernehmen. Schließlich handelt es sich beim „Gleichgewicht der Kräfte“ um ein sehr „altes“ europäisches Konzept, das bis 1945 unserem Kontinent und Deutschland im Besonderen geschadet hat.
Die zweite Frage, vor der Deutschland steht, lautet „Status quo“ oder „progressiver Internationalismus“?
„Die neue Weltordnung“ scheint ein Unwort in der deutschen Debatte geworden zu sein. Warum? Die auf die UN-gestützte Nachkriegsordnung wie auch der deutsche Sozialstaat waren enorm segensreiche Entwicklungen – regelrecht Meilensteine der Zivilisation. Doch die Welt hat sich seit 1947 gewandelt. 1990 war nicht das Ende der Geschichte oder auch nur der Chance, die Welt in einen immer noch besseren, sichereren und zivilisierteren Ort zu verwandeln. (…) Das ist der Antrieb hinter Tony Blairs „Doktrin für eine internationale Gemeinschaft“ von 1999: Es ist die Idee – eine grundlegend progressive und sozialdemokratische Idee –, dass wir eine ethische Pflicht haben, mehr und nicht weniger zu intervenieren. Außerdem sollte die internationale Gemeinschaft sich auf neue Standards und wechselseitige Verantwortlichkeiten verpflichten, die nationale Grenzen weniger sakrosankt werden lassen. Entstanden ist diese Doktrin übrigens vor dem 11. September.
Ich finde es daher seltsam, wenn in der deutschen Debatte so oft davon die Rede ist, die „alten“ Regeln (der internationalen Politik) zu „bewahren“ oder zu ihnen „zurückzukehren“. Obwohl die Generation der 68er an der Macht ist, hat sie auf die Weltordnung einen Blick, der vor allem vom Status quo, von einer „Establishment“-Sicht bestimmt ist. Aus meiner Sicht gilt Schröders Devise für die Reform des Sozialstaats genauso für das Gerüst der internationalen Beziehungen: „Entweder wir reformieren uns – oder die Reformen werden uns aufgezwungen.“
Vernünftiger Wandel ist der einzige Weg, den Multilateralismus und die Herrschaft des Rechts, die wir so hochhalten, zu bewahren.
Die dritte Entscheidung fällt zwischen dem Prinzip „Es wird schon gut gehen“ und dem Prinzip, Vorkehrungen zu treffen.
Seltsam an der aktuellen deutschen Debatte ist auch, wie widerstrebend bei dem Blick auf eine neue Weltordnung wahrgenommen wird, dass Amerika anders ist und die Welt eine andere ist – seit dem 11. September. Hier in Deutschland scheinen nur wenige die neuen Bedrohungen zu begreifen, die sich aus der Verknüpfung von Schurkenstaaten, Massenvernichtungswaffen und nicht-staatlichen Terrororganisationen von globaler Reichweiche ergeben.
Lassen Sie einmal die unterschiedlichen Auffassungen über die Details der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Bush-Administration beiseite – auch wir haben da Zweifel an bestimmten Aspekten. Und lassen wir auch die Besonderheiten des Irak außen vor.
Was mich verblüfft, ist die weit verbreitete Fundamentalopposition, die es in Deutschland gegen das Prinzip der Präemption gibt. Es ist eine Opposition gegen jede Art von Präemption, wie groß auch immer die Risiken sein mögen, die wir dadurch eingehen. Wie kann ein Volk so risikoscheu im Privatleben und in der Sozialpolitik sein und gleichzeitig bereit, den Sicherheitsgefährdungen so gleichgültig gegenüberzustehen, die sich in der Welt herausgebildet haben?
Das Prinzip, Vorkehrungen zu treffen, besagt: Manche Bedrohungen sind so groß, dass selbst kleine Risiken inakzeptabel sind. Warum sollte dieses Prinzip nicht auch jenseits der ökologischen Sphäre gelten? Wenn es richtig ist, einem Tschernobyl in Deutschland vorzubeugen, indem man die Atomkraftwerke eines nach dem anderen abschaltet – warum ist es dann falsch, darüber nachzudenken, dem Einsatz von nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen vorzubeugen?
Wenn es richtig war, die massenhaften ethnischen Säuberungen im Kosovo zu stoppen – ohne ein UN-Mandat übrigens –, wäre es rückblickend nicht besser und weniger kostspielig gewesen, vorbeugend einzugreifen? Sind wir glücklich bei der Vorstellung, dass der Iran in drei Jahren Nuklearwaffen haben könnte, und Nordkorea früher?
Nichts von alledem bedeutet, dass präemptive Militäreinsätze unsere erste Wahl sein sollten – dafür steht eine Hierarchie von Maßnahmen zur Verfügung. Es bedeutet lediglich, dass jede aktivistische, progressive Strategie für den Umgang mit den neuen Bedrohungen wie der Verantwortung in der Welt solche Einsätze nicht ausschließen sollte.
Wer das tut, steuert Europa auf einen Kollisionskurs mit jeder künftigen – nicht nur einer republikanischen – amerikanischen Administration.
Natürlich steckt der Teufel im Detail: Wer genau entscheidet, in welcher Weise und auf Grundlage welcher reformierten internationalen Regeln? Ich konzentriere mich hier jedoch auf die grundlegende Haltung, die hinter unserer Herangehensweise an internationale Beziehungen in der Zukunft steht. Sollten wir versuchen, den Wandel zu minimieren, oder unsere Fähigkeit maximieren, mit Bedrohungen umzugehen? Sind wir zufrieden, wenn das internationale System in einen unbefriedigenden Dualismus zurückfällt, in dem Länder entscheiden müssen, zu welchem Lager sie gehören, dem American camp oder dem non-American camp?
ÜBERSETZUNG: PATRIK SCHWARZ