: Große Schnitte, kleine Schnitte
Pier Paolo Pasolinis De-Sade-Verfilmung „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ kommt jetzt wieder in die Kinos. In ihrem Entstehungsjahr, 1975, war sie in Deutschland so umstritten, dass in vielen Städten die Kopien beschlagnahmt wurden
von DIETRICH KUHLBRODT
Gut ein Vierteljahrhundert nach der Erstaufführung kommt Pasolinis De-Sade-Verfilmung wieder in die Kinos. Damals löste der Film in der Bundesrepublik einen Kulturkampf aus. Es bleibt abzuwarten, wie er heute wirken wird. Immerhin wollte Pier Paolo Pasolini 1975 mit „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ etwas gegen den sich ausbreitenden „Amerikanismus“, den „Konsumwahn“ und den zur Ware gewordenen Eros unternehmen. Seine Stimme hatte in Italien Gewicht. Wenn er einen Artikel verfasste, räumte ihm der Mailänder Corriere della Sera die Frontseite ein.
Im November 1975 lud er, der damals 52-Jährige, an der Station Roma Termini einen 17 Jahre alten Stricher in seinen Alfa Romeo 2000 ein und fuhr in ein ödes Viertel von Ostia. Pasolini wurde von dem Jungen totgeschlagen. Der Täter fuhr überdies mit dem Wagen über die Leiche hin und her. Die Presse gab der Tat breiten Raum. Die Fotos zeigen das Opfer. Junge Männer und Polizisten stehen drum herum. Fast identisch sah eine der letzten Einstellungen in Pasolinis Spielfilm „Accattone“ (1961) aus. 1975 war die Fiktion Wirklichkeit geworden. In den Artikeln, die dazu geschrieben wurde, fand sich der Gedanke: So was kommt von so was.
Im Film hatte Pasolini die De-Sade’schen 120 Tage nach Salò verlegt. Damit war zumindest den italienischen Zeitgenossen klar, dass der Film sich mit der faschistischen Republik Salò befasste, in die sich Mussolini von 1943 bis 1945 zurückzog. Gleich jedoch nachdem der Film – im Todesmonat Pasolinis – in die Bundesrepublik gekommen war, tilgte der Verleih, United Artists, das Wort „Salò“ aus dem Titel. Entsprechend erregte sich die deutsche Öffentlichkeit über die Perversionen der Sexualität, die der Film zeigt, und nicht über die Perversion der faschistischen Gewaltherrschaft.
In Pasolinis Film sind ein Herzog, ein Bischof, ein Prälat und eine Starpianistin Vertreter der Konservativen, die sich bei Wein und Sekt der uneingeschränkten Machtfülle erfreuen und diese in Abendkleidung in geselliger Atmosphäre lustvoll ausleben. Auf Kosten der gedemütigten sowie nackten Jugend. Unschuldige Knaben und Mädchen werden auf den Gewalthaberpartys sexuell missbraucht, gepeinigt, gefoltert, zerschnitten und getötet. Leises amüsiertes Geplaudere begleitet die wüsten Exzesse. Die Opfer dienen der Unterhaltung. Die Jugend ist Ware. – Was im Film zu sehen ist, ist so inhuman wie Mussolinis Republik.
In der Bundesrepulik fühlten sich die Konservativen herausgefordert, allen voran Theo Fürstenau, Behördenleiter der Filmbewertungsstelle der Länder (FBW) und leider auch des Instituts für Filmkunde in Wiesbaden. Gegenüber der Presseagentur epd Kirche und Film forderte er in einem Beitrag „aus der Feder eines durchaus Konservativen, der mit der Allüre der Linken nichts (aber auch gar nichts) zu tun haben will“ (Fürstenau), das Verbot des Films. Und in der FAZ hielt Karl Korn „Gegenaufklärung“ für geboten. „Woran sterben reife, hochstehende Kulturen?“, fragte sich Die Welt.
Die Konservativen versuchten unter Anführung von Fürstenau, die Strafjustiz für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Die Polizei schritt ein. In 35 Städten wurden Aufführungen verboten. Staatsanwälte erhoben Anklage. Die Ergebnisse waren so unterschiedlich wie die Meinungen, die in der Presse veröffentlicht wurden. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die damals noch Erwachsenenzensur betrieb (Freigabe eines Films ab 18), fand sich auf der Seite der Befürworter der „120 Tage“ wieder. Freilich wäre ihre Position im Falle eines Verbots schwach gewesen. Mit der Installierung der Erwachsenenzensur hätte sie sich den Vorwurf des Grundgesetzwidrigkeit eingehandelt. – Die FSK gab noch im November 1975 den Film gegen Schnittauflagen frei.
Mit der Freigabe, dem ersten Schlag im Kulturkampf, war den Strafgerichten das Argument verwehrt, ein Kinobetreiber, der den Film trotz der öffentlichen Kampagne gezeigt hatte, sei auch subjektiv schuldig gewesen. Jeder Vorführer konnte sich auf die FSK-Freigabe berufen.
In Hamburg war der Film eine Zeit lang beschlagnahmt. Ich konnte ihn in der Landesbildstelle sehen. Der Saal war überfüllt. Beamte, Staatsanwälte und Richter waren begierig, das inkriminierte Werk in Augenschein zu nehmen. Das berufliche Interesse galt der Frage, ob der Film sich auf die Freiheit der Kunst (Artikel 5 Grundgesetz) berufen dürfe, um gegen das Strafgesetz zu verstoßen (Pornografie- und Gewaltverbot). Drei Jahre später, 1978, bestätigte der Bundesgerichtshof die Freigabe der „120 Tage“ durch die FSK.
Heute, wir haben 2003, trägt Pasolinis Film wieder den Originaltitel. Ob nach wie vor die sechs Schnittauflagen von 1975 beachtet sind, mag jeder Kinobesucher selbst überprüfen:
„1. In der Szene mit den nackten Knaben, die auf allen Vieren gehend, an Hundeleinen gebunden, auch gepeitscht werden, ist das lange Auspeitschen eines größeren Jungen, der gejagt wird, um den letzten Teil zu kürzen, wenn der Junge sich in hilfloser Situation an die verschlossene Tür klammert und die Schläge auf den nackten Körper auftreffen.
2. In der Szene, wenn ein Mädchen über dem Gesicht des liegenden Blanges uriniert, ist der Vorgang auf ein Minimum zu kürzen, wenn in Großaufnahme sein Gesicht mit dem auftreffenden Wasserstrahl gezeigt wird.
3. Bei dem Koitalvorgang der beiden Männer zunächst im Bett ist der letzte Teil des Koitus, nachdem sie auf den Boden gefallen sind, mit den heftigen Bewegungen des nackten Gesäßes zu entfernen.
4. In der Bildfolge, wenn Blanges mit dem Fernglas durch Fenster die brutalen Vorgänge auf dem Hof beobachtet, ist das Zunge-Abschneiden an einem Jungen auf ein Minimum zu reduzieren.
5. In derselben Szenenfolge ist der Koitus an einem an allen vieren gefesselten jungen Mann à tergo um die zweite Einstellung zu kürzen.
6. In der selben Szenenfolge ist der Vorgang des Skalpierens an einem jungen Mädchen um den letzten Teil zu kürzen.“
„Salò oder Die 120 Tage von Sodom“. Regie: Pier Paolo Pasolini. Mit Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Caterina Boratto u. a. Italien/Frankreich 1975, 117 Min.