: Vermessene Standards
Die Demokratisierungs-Ideologie der USA wird im Irak als fremdbestimmt undder Tradition widersprechend abgelehnt – und ist letztlich zum Scheitern verurteilt
Im historischen Gedächtnis der Amerikaner bleibt der Zweite Weltkrieg der gute, der gerechte Krieg. Er wurde unter großen Opfern gegen zwei menschheitsbedrohende Regime, das deutsche und das japanische, geführt. Er beflügelte ein erloschen geglaubtes demokratisches Sendungsbewusstsein. Auf den Sieg folgte die Besatzung, im Zuge deren die Faschisten entmachtet und bestraft und ihre Apparate zerschlagen wurden; die Ökonomie wurde angekurbelt, und schrittweise baute man demokratische Strukturen auf. Dies geschah in Japan im Alleingang, in Deutschland im Verein mit den westlichen Alliierten in deren Besatzungszonen. Trotz unterschiedlicher Verlaufsformen, trotz Halbheiten und enttäuschter Hoffnungen wurde aus der Besatzung beider Länder eine Erfolgsgeschichte.
An diese demokratische Sendung der USA will George W. Bush anknüpfen. „Nachdem wir die Feinde geschlagen hatten“, so Bush im Februar vor dem American Enterprise Institute, „haben wir nicht nur Besatzungsarmeen hinterlassen, sondern Verfassungen und Parlamente. […] Viele sagten damals, die Kulturen Japans und Deutschlands seien unfähig, demokratische Werte aufzunehmen. Sie irrten sich. Manche sagen das Gleiche heute im Bezug auf den Irak. Sie irren ebenfalls.“ Ein demokratischer Irak aber würde „als ein dramatisches und inspirierendes Beispiel der Freiheit für andere Nationen in der Region dienen“.
Liegt es nicht nahe, diesen ganzen historischen Parallelisierungsversuch zu Japan und Deutschland als billige Maskerade abzutun? Ist den amerikanischen Kontrollabsichten nicht ausschließlich ein autoritär und zentralistisch operierendes proamerikanisches Militärregime im Irak nützlich?
Die Demokratisierungsideologie mit Deutschland und Japan als historischen Beweisstücken kann von Bush nicht beliebig an- und abgestellt werden. Sie versucht, auf das zentrale Problem der amerikanischen Irakpolitik, ihr ebenso offensichtliches wie chronisches Begründungsdefizit, zu antworten. Die Irakintervention hatte keine Grundlage in der UNO-Charta und im Völkerrecht, die Bedrohung der USA (durch Massenvernichtungswaffen, durch Verbindungen zu Terrornetzen) galt großen Teilen der Weltöffentlichkeit einfach als unglaubwürdig. Umso dringlicher wurde es für Bush, diese fehlende Legalität durch eine Art höherer Legitimität zu ersetzen. Sie wird eben durch eine demokratische Befreiungsideologie geliefert, die sich mit dem Heiligenschein des großen antifaschistischen Krieges schmückt.
Wie funktioniert diese Anleihe, und welche Chancen hat sie?
Als die Amerikaner Japan und die Alliierten Deutschland besetzten, war die Niederlage der Machthaber vollständig. Mochte es auch noch wüst aussehen in den Köpfen der Bevölkerung, sie war in ihrer großen Mehrheit realistisch genug, das Besatzungsregime als einzige Chance zu begreifen. Dies umso mehr, als mit dem Kalten Krieg die USA gegenüber der Sowjetunion in Zugzwang gerieten und die westlichen Deutschen wie die Japaner sich als antisowjetisches Bollwerk nützlich machen konnten. Die Systemauseinandersetzung bestimmte das Tempo, in dem der Prozess der Staatsbildung ablief. Amerikanische Wirtschaftshilfe und die durch den Koreakrieg angeheizte Nachkriegskonjunktur erleichterten in beiden Ländern die wirtschaftliche Erholung. Der Wohlstand legitimierte in den Augen der Bevölkerung letztlich auch die Demokratisierung.
Im europäischen wie im asiatischen Umfeld der geschlagenen faschistischen Mächte wurden die Amerikaner als Befreier und wurde ihr Besatzungsregime als gerechtfertigt angesehen. Befreiung durch die Alliierten bedeutete oft die schiere Chance, zu überleben. Auch in den späten Vierzigerjahren, als der Kalte Krieg voll im Gange war, vermochte es die sowjetische Propaganda im westlichen Europa nicht, die amerikanische Präsenz in Deutschland als koloniales Unterdrückungsregime darzustellen und das Bild eines Europa unter amerikanischer Knute an die Wand zu malen. Die amerikanische Hegemonie wurde hier als zumindest vorübergehend nötig akzeptiert.
Dieses dichte Gewebe der Legitimation fehlt der amerikanischen Besatzung des Irak vollständig. Die Bevölkerung des Landes wurde selbst zum Opfer des Baath-Regimes. Sie war zu keinem Zeitpunkt Teilnehmer oder Nutznießer von Unternehmungen gewesen, mittels deren fremde Völker versklavt und ausgebeutet wurden. Sie erlebte nicht den Fall von Weltmachtsfantasien ins Nichts, wie es in Deutschland und Japan die Folge der totalen Niederlage war. Sie brauchte keine Heiler von der nationalen Paranoia. Entsprechend reagiert sie auf die Besatzung, indem sie den GIs Dank abstattet, ihnen im Übrigen aber gute Reise wünscht.
Das Ende des Baath-Regimes bedeutet nicht den Zusammenbruch der Ideologien, denen die Menschen im Irak wie in der ganzen Region anhängen. Der arabische Nationalismus als niedergehende wie auch der islamistische Universalismus als aufsteigende Ideologie nähren sich aus den ungelösten Problemen der nachkolonialen Ära, aus den fehlgeschlagenen Modernisierungsversuchen und aus den Folgen extremer sozialer Ungleichheit. In Deutschland wie in Japan wurde das durch die Besatzung importierte Zivilisationsmodell als Alternative zu einem Bankrott gegangenen Sonderweg angesehen, gleichzeitig aber auch als Anknüpfung an eigene demokratische oder wenigstens rechtsstaatliche Traditionen verstanden. Im Irak aber wird die demokratische Mission der USA als fremdbestimmt und der Tradition widersprechend abgelehnt.
Das hängt damit zusammen, dass die amerikanische Politik als heuchlerisch, weil mit doppelten Standards messend, erlebt worden ist und weiter erlebt wird. War es nicht Saddam selbst, der wie viele andere Despoten der Region von den USA gepäppelt wurde? Und messen die USA bei dem großen, ungelösten Konflikt der Region, dem zwischen Israelis und Palästinensern, nicht auch mit zweierlei Maß?
Schon jetzt, kaum dass Bush das Ende der Kampfhandlungen verkündet hat, zeichnen sich die Widersprüche der Demokratisierungsideologie ab. Eigentlich müsste man, dem historischen Vorbild folgend, schrittweise, dezentral und basisnah demokratisieren, was sich aber angesichts der ethnischen, tribalen und religiösen Zerklüftungen des Landes als zu gefährlich herausstellt. Also gilt es, rasch eine gewählte Zentralautorität zu etablieren. Was aber, wenn die Wahlen zugunsten der proiranischen Islamisten ausfallen? Der Demokratie-Exporteur Perle meint, ein solches Ergebnis müsse man respektieren, Rumsfeld ist dagegen und rät dazu, abzuwarten. Garner manövriert. Das ganze Unternehmen steckt fest, ehe es überhaupt in Fahrt gekommen ist. Dies als Ergebnis zu konstatieren ist auch für den hiesigen Hausgebrauch wichtig, richten sich doch die Hoffnungen selbst vieler Kriegsgegner auf ein schließliches demokratisches Happy End. CHRISTIAN SEMLER