: Triumphaler Abgang
Emmanuel Todd hat einen fulminanten Nachruf auf die Weltmacht USA geschrieben. Er unterschätzt jedoch die große Dynamik der amerikanischen Gesellschaft und ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur
von WARNFRIED DETTLING
Ein Krieg geht zu Ende, von dessen offiziellem Kriegsgrund (der Entwaffnung des Irak) kaum noch einer redet. Macht, wenn sie nur erfolgreich eingesetzt wird, so lernen wir, legitimiert sich offensichtlich selbst. Zu Ende geht ein Krieg, der einen schlimmen Diktator beseitigt und damit, so hoffen manche, den Weg für die Demokratisierung einer ganzen Region bereitet hat. Wie immer man den Feldzug gegen den Irak und seine Folgen beurteilen mag, für die meisten duldet es keinen Zweifel, dass er die Vereinigten Staaten von Amerika auf dem – vorläufigen – Zenit ihrer Macht gesehen hat: ein Imperium, das seinen Willen jedem aufzwingen kann, den es zu den „Schurkenstaaten“ zählt; ein modernes Rom, das seine Mission erfüllen wird. Parcere subiectis et debellare superbos, so hat Vergil die römische Sendung auf den Begriff gebracht: „Unterworfene schonen und Hochmütige niederkämpfen.“ Es scheint nur noch die Frage zu sein: Wer kommt als Nächster dran?
In diese Lage hinein erscheint Emmanuel Todds fulminantes Buch über die USA („Après l’empire“) auf dem deutschen Markt. In Frankreich, wo es Anfang September 2002 erschienen ist, stand es monatelang auf den Bestsellerlisten, wurde es eines der meistdiskutierten politischen Bücher und bislang in elf Sprachen übersetzt. Todd, Publizist, Demograph und auch Berater von Jacques Chirac bei dessen erfolgreicher Präsidentschaftskampagne, hat gelegentlich Glück mit seinen Prognosen. Bereits 1976 sagte er den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Im vorliegenden Buch versucht er nun zu begründen, dass die Zeit der imperialen Herrschaft Amerikas vorbei ist.
Die Welt sei zu groß, zu vielgestaltig und zu dynamisch, so argumentiert er, um die Vorherrschaft einer einzigen Macht auf Dauer zu ertragen. Mittlerweile seien die USA vom Rest der Welt viel abhängiger als umgekehrt. Amerika versuche seinen Niedergang zu kaschieren durch einen „theatralischen militärischen Aktionismus“, der sich gegen relativ unbedeutende Staaten richte. Der Kampf gegen den Terrorismus, gegen den Irak und gegen die „Achse des Bösen“ sei nur ein Vorwand, ein Zeichen von Schwäche in einer Zeit, in der Europa und Russland, Japan und China zu den wichtigsten strategischen Akteuren heranwachsen würden.
Todds zentrale These erklärt das Verhalten Amerikas nicht aus seiner Stärke, sondern aus seiner Schwäche, nämlich aus der ungelösten Aufgabe, „mit dem unvermeidlichen Machtverlust in einer immer stärker bevölkerten und immer mehr entwickelten Welt fertig zu werden“. Bei dieser These beruft er sich nicht auf linke Amerikakritiker, sondern auf „Stützen des Establishments“ wie Paul Kennedy, Henry Kissinger, Samuel Huntington, Zbigniew Brzezinski, die alle eine gemeinsame Sorge artikulierten: „Die Macht der Vereinigten Staaten erscheint brüchig und bedroht.“
Todd hat, keine Frage, einen großen politischen Essay geschrieben. Doch er unterschätzt vermutlich die Stärke Amerikas. Sie ist ja nicht nur militärischer Natur. Sie gründet auch in der Vitalität und Dynamik einer Gesellschaft, die immer wieder zu neuen Anfängen fähig, zu neuen Grenzen unterwegs, zu Selbstkorrekturen in der Lage ist. Nach dem Abenteuer in Vietnam wählten die Amerikaner Jimmy Carter, einen sanften Präsidenten, der dann nach vier Jahren an seiner innen- und wirtschaftspolitischen Bilanz gescheitert ist. Dieses Schicksal könnte auch George W. Bush selbst dann ereilen, wenn er im nächsten Jahr als siegreicher Feldherr (heute Irak, morgen Syrien?) in den Wahlkampf zieht, aber auch als ein Präsident, der die Probleme zu Hause nicht in den Griff bekommen hat.
In ähnlicher Weise unterschätzt Todd auch die Schwierigkeiten und Zeiträume, die die „neuen Mächte“ noch vor sich haben, bis sie endlich als gleichrangige Akteure in der Welt agieren werden. Dennoch hat er ein wichtiges Buch zur rechten Zeit geschrieben, ein Buch, das die zentralen Themen für Europa und für Deutschland auf die Tagesordnung setzt:
Da ist einmal das, was er und jetzt auch der deutsche Kanzler die „Emanzipation Europas“ nennen. Der Kalte Krieg ist vorbei, die Sowjetunion verschwunden. Die USA schütteln ihre Einbindung in Partnerschaften und multilaterale Abkommen und Institutionen ab. Eine neue Denkschule, ein „hegemonialer Internationalismus“ hat sich in der amerikanischen Politik durchgesetzt. Aus diesen und anderen Gründen können sich Europa und Deutschland nicht mehr an den USA „wie ein Kind an einer Bezugsperson“ orientieren. In starken Passagen arbeitet der Autor diese für viele bittere Erkenntnis heraus. Doch das bedeutet freilich nicht, wie er zu glauben scheint, dass es für Europa keine anderen Optionen gebe als Unterwerfen oder Rebellieren, Integration in das amerikanische Imperium oder Widerstand gegen die USA. Aber eine neu zu definierende Partnerschaft zwischen Gleichen und Verschiedenen kann es erst wieder geben, wenn Europa eine eigenständige Rolle gefunden und einen politischen Willen aus sich selbst heraus und nicht in Ableitung von oder in Opposition zu den USA zu bilden gelernt hat. Das ist ein weiter Weg.
Die Rede von einer „Emanzipation Europas“ scheint in diesem Zusammenhang nicht zu hoch gegriffen. Aus wirtschaftlicher Stärke folgt nicht automatisch politische Stärke, so wenig wie eine militärische Überlegenheit künftig noch, das ist die Botschaft von Todd, eine imperiale Macht begründen kann. Der Autor verweist zu Recht auf die Dimensionen einer „soft power“, die nun gerade Europa auszeichnen, so vor allem dessen sozialökonomisches Modell, das erfolgreich einen dritten Weg zwischen dem amerikanischen Individualismus und einem staatsgläubigen Sozialismus eingeschlagen hat. „Die Stärke Europas liegt in seiner Legitimität.“ Den meisten Eliten in den meisten Ländern der Welt erscheint das europäische Modell attraktiver als das amerikanische. Man kann mit Waffen eine Diktatur stürzen, nicht aber eine Gesellschaft, eine Region oder gleich die ganze Welt befrieden. Man kann mit Bajonetten Macht erobern, auf ihnen aber kein ziviles und demokratisches Gemeinwesen aufbauen.
Die eigenständige Rolle Europas aber wie auch seine sozialökonomische Überlegenheit kommen freilich nur zum Tragen, wenn sie durch eine entsprechende Verteidigungspolitik flankiert und untermauert wird. Es wird zur Ironie der Geschichte gehören, dass in Deutschland eine rot-grüne Regierung das gemacht hat und weiter wird tun müssen, was Kohl in 16 Jahren vermieden und wovon er Deutschland notfalls freigekauft hat: die militärische Befestigung einer eigenständigen europäischen Außenpolitik und die Teilnahme an Einsätzen out of area. Das war und ist ein qualitativer Sprung heraus aus einer langen Tradition. Es gibt dafür, wie auch bei Todd nachzulesen ist, gute Gründe.
Die Regierung Schröder/Fischer ist damit nicht isoliert, nicht in der Welt und nicht in der deutschen Öffentlichkeit. Gerade wer verhindern möchte, dass die (scheinbare) Allmacht Amerikas und die Ohnmacht Europas immer wieder auf der Weltbühne vorgeführt werden, der kommt um die Conclusio mehr Europa und das mit allen Konsequenzen nicht herum. „Den Militarismus ablehnen“, wie Todd rät, ist eine gute Sache, „uns aber auf die inneren wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Gesellschaften zu konzentrieren“, wie er meint – und den Amerikanern bei ihrem Niedergang zuzuschauen, das wird nicht gehen, in einem „emanzipierten Europa“ schon gar nicht.
Emmanuel Todd: „Weltmacht USA. Ein Nachruf“, 264 Seiten, Piper Verlag München 2003, 13 €