: Das Heilige und das Kaputte
Krieg und Technik sind die beiden großen Vereinfacher, die sich wechselseitig bedingen und stimulieren. Einige Anmerkungen zum Militärischen der Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht
von PETER FUCHS
Wie immer, wenn es Krieg ist, scheint alles verworren. Sicher ist nur, dass er stattfindet, dass also gestorben und verstümmelt werden muss. Und dass diejenigen, denen dies zustößt, nur in sehr bizarren Fällen damit einverstanden sind, dass sie für Ideen sterben, für die es sich vielleicht zu leben gelohnt hätte. Wenn sie nicht einverstanden sind, gehen sie für Ideen zugrunde, für die der Preis dieses Sterbens zu hoch ist, weil für sie zu leben gleichermaßen sinnlos ist.
Jenseits dieser Sicherheit gibt es kaum etwas, was man genau wissen kann – außer, dass dieser Krieg noch mehr als die vorangehenden Kriege des gleichen Typs zumindest auf Seiten derer, die ihn angefangen haben, ein hochtechnisierter Krieg ist, eine Glanz- und Spitzenleistung der Technik, eine nachgerade techno-circensische Veranstaltung. Man könnte darauf achten, dass sie die gesamte Phantasmatik des Fortschritts ad absurdum zu führen scheint, indem sie sie bestätigt: Das Töten und Zerstören funktioniert ja meistens, wofür dann die Metaphorik des Heilens eingesetzt wird, die des chirurgischen Schnittes, der skalpellhaften Präzision, des nahezu verlustlosen Eingriffs.
Kollateralnutzen durch Verfeinerung
Das Land, das für den technischen Fortschritt paradigmatisch geworden ist, wird durch archaische Kampfformen (Mann gegen Mann) eher nur leicht gestört. Es hat mit Unsauberkeiten, mit Restunschärfen zu tun, mit Kollateralschäden, die aber nur die weitere Technisierung des Krieges stimulieren, also genau besehen einen Kollateralnutzen bringen: die offensichtliche Berechtigung zu noch mehr ausgefeilter Technik. Was aber heißt denn Technik, wenn man sie nicht nur als blitzende Maschinerie auffassen will? Was heißt sie sozial? Was für Mentalitäten wirft sie aus? Was für Kommunikation wird durch sie begünstigt und welche Art von Kommunikation nicht?
Zunächst und vor allem ist Technik gegen alle geläufigen Alltagsannahmen eine grandiose Simplifikation. Sie kann (wie etwa bei kriegstechnologischer Hochrüstung) extrem kompliziert sein und lässt sich doch auf eine ganz einfache Grundunterscheidung zurückführen, die Niklas Luhmann so lässig wie treffend als die zwischen „heil“ und „kaputt“ bezeichnet hat. Technisch ist, was sich beobachten lässt als etwas, das funktioniert oder nicht funktioniert. Das Licht geht an, wenn man einen Schalter bedient, und wenn es dies nicht tut, schnurrt die ungeheure Komplexität psychischer und sozialer Systeme auf die einfache Frage zusammen: Wo liegt der Fehler?
Dies kann kein verschwommener Fehler sein, keine Unausdeutbarkeit, kein Zusammenhang, dem man sich nur behutsam und mit humaner Delikatesse nähern könnte, sondern nur ein dem Prinzip nach klarer Fehler, der kein Fehler der Welt ist, sondern ein Fehler in einem durch und durch prägnanten Sachverhalt. Der Erfolg der Technik in der Moderne beruht darauf, dass sie mögliche Komplexität extrem reduziert, denn ihr Erfolg zeigt sich, wenn die Sache funktioniert.
Fatal ist, dass diese Meisterschaft in der Reduktion von Komplexität dazu führen kann, dass die Welt jenseits der Unterscheidung von heil und kaputt auch so beobachtet werden kann: als ebenfalls fehlerhaft im Sinne der Technik, als fehlerausmerzungsbedürftig. Auch die fragile Menschenwelt, in der kaum etwas geschieht, was so einfach als ein Funktionieren oder Nicht-Funktionieren beschrieben werden kann, kann so beobachtet werden. Das so einfache Schema heil/kaputt wird ausgedehnt auf alles Beobachtbare. Die Welt wird, wenn man so will, eingedickt auf Reparaturmöglichkeiten und Reparaturnotwendigkeiten. Die Technik fällt, wie man sagen könnte, jene Mentalitäten aus, die diese Eindickung nicht mehr registrieren. Die Welt wird zu einer Fehlerbehebungswelt, in der man auftretende Probleme ausmerzen kann – zumindest dem Prinzip nach. Für dennoch eintretende Unglücke steht dann die Restkategorie menschlichen Versagens zur Verfügung, die das Prinzip ja nur bestätigt.
Freunde und Feinde im Sortiment
Nun ist auch der Krieg, wie man seit alters her weiß, ein großer Simplifikator. Er ist es in vielen Hinsichten, etwa darin, dass er von den Leuten absehen muss (sie nur noch zählen kann), die getötet werden. Oder darin, dass er die Leute im Freund-Feind-Schema sortiert, die Guten und die Bösen trennt; dazu diejenigen, die töten, weil sie zu Recht töten, und die anderen, die getötet werden müssen, weil sie auf der falschen Seite sind. Oder darin, dass er in der Moderne Zivilisten von Soldaten unterscheidet, also eher unangenehme von angenehmen Opfern. Oder darin, dass er – gestützt auf die Massenmedien, die entsprechend embedded sein sollten – das Flackern der Flammen, den Lärm der Explosionen zu zeigen gestattet, aber nicht: Tod und Verwundung, nicht die kreatürliche Angst der Gefangenen, nicht das Grauen der (von den Opfern her unkontrollierbaren) Auslöschung aus der Ferne.
Der Krieg, hat man gesagt, sei der Vater aller Dinge, und wir würden heute hinzufügen: der Vater aller einfachen Unterscheidungen. Er bedarf nur einer, wenn man so formulieren darf, Intelligenz der ersten Ordnung, die diese einfachen Unterscheidungen exerziert, nicht reflektiert, nicht zurückweist, und eben deshalb sind Krieg und Technik geradezu inzestuös verschwistert, zwei große Simplifikationen, die sich wechselseitig bedingen und stimulieren.
Dabei schafft es der Krieg, dass die Leitunterscheidung der Technik, heil/kaputt, eine seltsam paradoxe Form annimmt. Die Technik muss, wenn man so will, heil sein, sie muss funktionieren, damit etwas kaputt geht, nicht mehr funktioniert. Und das, was kaputt gemacht wird, war im eigentlichen Sinne schon kaputt, so dass die Technik durch Kaputtmachen im Dienst des Heilmachens steht, im Dienst der Herstellung eines Zustandes, der dann wieder so funktionieren wird, wie die Kaputtmacher es wünschen.
Auch hier zeigt sich noch einmal, warum die chirurgischen Metaphern des Heilens auf der Seite der Kriegs- und Politiktechnologen so überzeugend wirken: In einer Heil/Kaputt-Welt sind die Bilder des Therapeutischen plausibel, vor allem diejenigen, die sich aus einer technizistisch verstandenen Medizin herleiten, die ohne erheblichen Zeitaufwand Defektes ausschneidet. Wir haben es mit im Detail besorgten, im ganzen optimistisch gesinnten Bellotherapeuten zu tun.
An der Verschwisterung der großen Simplifikationen, an diesem strange attractor, docken weitere Vereinfachungen an, die im Gefilde des Kriegerischen immer Konjunktur haben: die Helden, die Kameraden, die Sieger, die Ehrensalven, die Frauen, die Mütter der Soldaten, die Abschiede, der Kult der Gefallenen, die einschlägigen Heroismen und Patriotismen, die Flaggen und die Fahnen, die Deserteure, die Feiglinge, die Gefangenen in den dafür vorgesehenen Posen, die Ruinen, die tosenden Raketen. Es sind Standardbilder von beschämender Schlichtheit, durch die sich die Geschichte der Kriege in die Gegenwart hineinkopiert.
Gebete für und gegen alles
Und immer wieder – was nach den ungeheuren Kriegen des 20. Jahrhunderts am meisten überrascht – Gebete, Gebete, Gebete, auf allen Seiten, für und gegen alles. Es ist, wenn man an den hochtechnisierten Aggressor denkt, schon frappierend, wie die Simplifikationen des Krieges und der Technik sich (als ginge das zusammen) religiöser Formen bedienen, die doch gerade nicht bezogen sind auf technoide Lösungswelten, sondern auf das Unlösbare, auf die Sinnbrüche des Lebens und des Sterbens, auf das, was in den Leitunterscheidungen von heil/kaputt und Freund/Feind niemals aufgeht.
Die einzige Erklärung dafür ist, dass hier die Religion selbst von diesen Schemata „supercodiert“ wird. Sie wird in überschlichten Mustern aufgegriffen. Gott ist der gute Gott (gegen alle Evidenz), der einen Gegner hat, den Satan und seine bösen Spießgesellen, die er besiegen (kaputt machen) wird, so dass das Heile möglich wird. Die Bellotechnologen des 21. Jahrhunderts wähnen sich in einem kosmischen Drama, in dem sie auf der Seite des Heils stehen. Sie bestätigen mit ihren öffentlich vorgetragenen Gebeten nur das Bild ihrer Welt, in dem sie die Heilen sind und die anderen die Unheilen, denen durch präzises Unheil das Heil gebracht wird, koste es, was oder wen es wolle.
So einfach liegen die Dinge, wenn man die Welt mit den Augen des Krieges und der Technik sieht. So kann sogar ein Gott instrumentalisiert werden, der sich doch (oder irren wir da?) definitionsgemäß jeglicher Schematisierung entzöge. Aber das kann man mit Sicherheit von Krieg und Technik her nicht mehr registrieren. Ihre Leitunterscheidungen verhindern, dass mit ihnen (und sei es aus den Augenwinkeln) noch mitgesehen werden kann, was sie nicht sehen, die dunkle, die andere Seite dieser Unterscheidungen selbst
Der Autor, ein Schüler Niklas Luhmanns, ist Professor für allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung in Neubrandenburg