: Das Völkerrecht gilt nicht
Afrika macht es vor: Dort sind Regimewechsel per Krieg von außen normal. Diktatoren wehren sich gegen Einmischung, Demokraten fordern sie, ob mit oder ohne UN-Mandat
Vor fast einem Vierteljahrhundert führte ein vom Ausland per Militärschlag erwirkter Regimewechsel zu einer weltpolitischen Krise. Vietnam besetzte zu Weihnachten 1978 Kambodscha und stürzte das Völkermordregime der Roten Khmer unter Pol Pot. Der „freie Westen“ war empört, China marschierte in Vietnam ein, der UN-Sicherheitsrat forderte den Abzug aller ausländischen Truppen aus Kambodscha und erkannte die neuen Machthaber nicht an. Treibende Kraft hinter der diplomatischen Schützenhilfe für die kambodschanischen Völkermörder waren die USA, frisch von Vietnam militärisch besiegt und daher fanatisch gegen alles eingestellt, was von Hanoi ausging. US-Präsident war damals Jimmy Carter, heute wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte Träger des Friedensnobelpreises. Carters Nachfolger Ronald Reagan führte dessen Kambodschapolitik fort. Sein erster Außenminister, Alexander Haig, sagte zur Begründung, die Menschenrechte seien nun einmal nicht so wichtig wie der Kampf gegen den Terrorismus.
Heute stellen sich die Gegner des US-britischen Irakkrieges ähnlich entschlossen gegen einen Regimewechsel im Irak wie 1979 die Gegner Vietnams dem in Kambodscha. Saddam Hussein ist in ihren Augen völkerrechtlich unantastbar, so wie einst Pol Pot. Der Unterschied ist, dass die Interventionsgegner damals die USA auf ihrer Seite hatten und heute nicht. Man darf sich angesichts dessen fragen, wer dazugelernt hat und wer nicht.
Der Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak ist weder der erste Präventivkrieg der Welt noch der erste flagrante Bruch des Völkerrechts. Er entspricht der globalen Realität – einer Realität, die keine einfachen Schlüsse zulässt und die seine Gegner offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Denn der Präzedenzfall Kambodscha hatte Folgen. 1979 schickte Julius Nyerere, damals führender sozialistischer Staatschef Afrikas, Tansanias Armee ins benachbarte Uganda und stürzte dort Diktator Idi Amin. Ein Mandat der UNO hatte er dafür ebenso wenig wie zuvor die Vietnamesen. Aber er hatte mehr Glück: Die internationale Diplomatie blieb still. Schließlich war Uganda weltpolitisch unwichtig, niemand weinte dem brutalen Gewaltherrscher Amin eine Träne nach. Er ging unbeachtet ins Exil. Und in Afrika setzte sich die Erkenntnis durch, dass völkerrechtliche Bedenken der internationalen Diplomatie selektiv sind.
Regimewechsel aus Nachbarländern heraus sind inzwischen afrikanische Normalität. Aus Tansania heraus operierte schon in den 70er-Jahren die Befreiungsbewegung Mosambiks, aus Mosambik heraus die Simbabwes. Der heutige Herrscher des Tschad startete seine gewaltsame Machtergreifung im Sudan, der neue Putschist in der Zentralafrikanischen Republik im Tschad. Aus Ruanda und Uganda heraus wurde Zaires Diktator Mobutu gestürzt, in der heutigen Demokratischen Republik Kongo tummeln sich fremde Armeen. In Liberia, Sierra Leone, Guinea, Elfenbeinküste und Burkina Faso bestimmt eine Wechselwirkung von grenzüberschreitenden Rebellionen und Militärinterventionen die Politik.
All das geschieht jenseits des Völkerrechts oder überhaupt irgendeiner Form von Legalität. Und es ist den Völkerrechtswächtern der Welt größtenteils egal. Die UNO gibt manchmal Mandate, wenn ein Eingreifer sich Friedenstruppe nennt, meistens aber nicht. Genozid an hunderttausenden in Ruanda oder ein blutiger Staatszerfall im Kongo stören die internationale Diplomatie weniger als die Möglichkeit, dass die US-Armee Saddam Hussein entmachtet.
Wenn das das Völkerrecht ist, hat das Völkerrecht ein Problem. Es ist kein Zufall, wenn die afrikanischen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats mit der aufgeregten Diskussion um die Frage, ob sie einer Krieg legitimierenden Irakresolution zustimmen würden, wenig anfangen konnten. Aus afrikanischer Sicht ist der Streit, wie viele UN-Resolutionen für einen Krieg gegen den Irak nötig sind, ähnlich absurd wie der mittelalterliche Theologendisput, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. In Afrikas Konfliktgebieten sind sämtliche Grundsätze des Völkerrechts, des regulären Umgangs zwischen souveränen Staaten, schon lange über den Haufen geschmissen worden. Aber erst eine US-Militäraktion gegen den Irak bereitet den Diplomaten in New York schlaflose Nächte und treibt die Schüler Deutschlands auf die Straße.
Institutionen und Rechtssysteme, die für sich selbst Universalität beanspruchen, können nicht glaubwürdig bleiben, wenn sie Vorgänge in einem Teil der Welt komplett aus ihrer Selbstreflexion ausblenden. Die Universalisten, die vom Weltrechtsprinzip träumen, sollten zumindest die Welt in ihrer Gesamtheit ernst nehmen. Oder sie müssen die Konsequenz ziehen und anerkennen, dass die angeblich universalen Grundsätze des Völkerrechts nie universal gewesen sind. Dann aber ist die Frage, was an einem per Krieg herbeigeführten Regimewechsel im Irak falsch ist, nicht mehr unter Hinweis auf abstrakte Rechtsgrundsätze zu beantworten. Es muss stattdessen eine Güterabwägung erfolgen: Wem nützen der Krieg und der Regimewechsel, und wem nützt seine Verhinderung?
Hier kann die Welt von Afrika lernen. Es sind die Diktatoren Afrikas, die bis heute verzweifelt am Prinzip der Nichteinmischung, der Unverletzlichkeit der Grenzen festhalten, während Demokraten von jeher das Recht auf Einmischung fordern. Ohne dieses wären die Entkolonisierung und die Idee einer panafrikanischen Bewegung zur Befreiung des Kontinents undenkbar gewesen. Die UNO griff in Afrika nie ein, um Kolonialregime zu stürzen oder Kolonialkriege wie in Algerien zu beenden, sondern erst gegen Afrikas einflussreichsten Entkolonisierer Patrice Lumumba im Kongo.
Kolonialherren und ihre diktatorischen Nachfolger haben im Namen des Rechts Unrechtsregime errichtet und verteidigt; Befreiungsbewegungen und ihre ausländischen Verbündeten mussten unter Bruch des Völkerrechts handeln, um ihren Ländern Fortschritt zu bringen. Als Kuba in den 70er-Jahren Truppen nach Angola schickte, um die Unabhängigkeitsbewegung gegen Apartheid-Südafrika zu schützen, gab es auch kein UN-Mandat. Hätten die Befreiungsbewegungen des südlichen Afrikas auch nur einen Bruchteil der militärischen Unterstützung seitens der USA erhalten, die heute dem Regimewechsel im Irak zuteil wird, wären Millionen Menschenleben gerettet worden.
Der Test, ob ein Krieg gerechtfertigt ist oder nicht, besteht nicht in der Einhaltung juristischer Prinzipien, sondern in der Wahrung der Menschenrechte. Die heute oft zu hörende Aussage, es gebe keinen gerechten Krieg, ist eine Verhöhnung der Opfer des 20. Jahrhunderts, die auf Kriege angewiesen waren, um Unrecht ein Ende zu setzen – in Nazideutschland und den von ihm besetzten Ländern, in allen Kolonialgebieten der Welt, in den Reichen Idi Amins, Pol Pots und eben Saddam Husseins.
DOMINIC JOHNSON