: Awacs fliegen quer
Rot-Grün sucht nach der Grenze für Militärhilfe: Wie weit darf die Türkei gehen, ehe sie zu weit geht?
aus Berlin PATRIK SCHWARZ
Die Grenze ist gezogen – doch wo beginnt die Grenzüberschreitung? Am Samstag hatte Außenminister Joschka Fischer angekündigt, die deutschen Soldaten würden aus Awacs-Maschinen, die über der Türkei an Aufklärungsflügen teilnehmen, abgezogen – falls „die Türkei Kriegspartei im Irak werden sollte“.
Seitdem mühen sich die Bundesregierung und ihre Angestellten einmal mehr in einer Kunst, die sie schon vor dem Irakkrieg so oft übten: der Suche nach der richtigen Balance. Auf der gestrigen Nato-Ratssitzung in Brüssel beteuerte der türkische Vertreter, sein Land wolle nicht Kriegspartei werden. Türkische Soldaten sollten nur einen maximal rund 20 Kilometer breiten Grenzstreifen sichern und humanitäre Hilfe leisten.
Berlin hat diese Erklärung vorerst geschluckt. Deutschland will die Türkei nicht zu rasch zur Kriegspartei erklären – vor allem wegen der ungewissen Folgen, die das für die Nato hätte. Andererseits möchten die rot-grünen Friedenskämpfer nicht über den Umweg einer türkischen Offensive im Nordirak doch noch in einen Krieg gezogen werden, den sie bisher so sorgfältig gemieden haben. Im Ergebnis umschifften gestern diverse Ministeriumssprecher jegliche Festlegung, wie weit die türkische Armee gehen darf, ohne zu weit zu gehen.
Grundlage des deutschen Engagements an Bord der Awacs sei ein Hilfeersuchen der Türkei vom 10. Februar, das auf defensiven Schutz des Luftraums ziele, erklärte Joschka Fischers Sprecher Walter Lindner. „Wenn diese Grundlage verlassen würde, dann ist diese Grundlage nicht mehr da“, sagte er. Geht es um Grenzüberschreitungen, werden auch politische Profis gerne mal philosophisch.
Einen Nebeneffekt hat die Auseinandersetzung: Zum ersten, sicher aber nicht zum letzten Mal findet die rot-grüne Koalition sich im selben Lager wie US-Präsident George Bush wieder. Berlin und Washington beschwören Ankara, auf einen Einmarsch in die kurdischen Gebiete des Nordirak zu verzichten. Ein Motiv für die deutschen Warnungen vor einer türkischen Offensive ließ gestern Otto Schilys Ministerium durchblicken. Kurdische Extremisten in Deutschland würden auf eine Besetzung ihrer Heimat heftig, womöglich sogar gewalttätig reagieren, sagte der Sprecher des Innenministers.
Den ganz großen Hammer gegen die Türkei wollte Regierungssprecher Bela Anda allerdings nicht herausholen. Anda distanzierte sich von Warnungen des belgischen Außenministers, bei einem Angriff auf den Nordirak sei die EU-Mitgliedschaft der Türkei in Gefahr.
Gleichzeitig bereitet auch der laufende, angeblich rein defensive Awacs-Einsatz den Koalitionären Kopfzerbrechen. So mancher blickt bangen Auges nach Karlsruhe, wo das Verfassungsgericht schon bald entscheiden will, ob der Einsatz der Zustimmung des Bundestages bedarf. Darauf dringt die klagende FDP. Angesichts der großen Einigkeit im Regierungslager könnte Rot-Grün die Abstimmung inzwischen wahrscheinlich sogar mit eigener Mehrheit bewältigen. Doch Gerhard Schröder geriete damit zwangsläufig in Argumentationsnöte. Der Kanzler selbst hatte im vergangenen Herbst erklärt, logistische Hilfe für die USA sei so lange mit dem deutschen Nein zum Krieg zu vereinbaren, wie die Bundesregierung für ihre Hilfestellungen kein Bundestagsmandat brauche. Grünen-Chef Bütikofer scheint inzwischen von der Weisheit der Schröder’schen Grenzziehung nicht mehr überzeugt zu sein. Gestern distanzierte er sich vorsichtig: „Es macht aus meiner Sicht retrospektiv wenig Sinn zu fragen, welche Aussage wie treffend und präzise war.“
Der Kanzler wiederum ging gestern die Unions-Opposition frontal an, die ihm vorgeworfen hatte, ein Abzug der Awacs-Besatzungen beschädige die Nato. „Was wir hier beobachten, zeigt einen erschreckenden Mangel an staatspolitischer Verantwortung“, sagte er. Die Bundesregierung müsse schließlich die Balance zwischen einer Nichtbeteiligung am Krieg und den Bündnisverpflichtungen finden. Da war er wieder, der Balanceakt.
Einen Kronzeugen konnte Schröder immerhin aufbieten. Der zunehmend kriegsskeptische CSU-Chef Edmund Stoiber erklärte, er halte „für völlig richtig“, was die Regierung den USA an Unterstützung gewähre. „Keine Bundesregierung könnte mehr tun als das.“