: Das laute Schweigen
Die Bundesregierung befindet sich derzeit in einem eklatanten programmatischen Selbstwiderspruch. Über Völkerrecht und Angriffskrieg aus der Sicht deutscher Politiker
Was bedeutet es eigentlich, wenn uns führende Politiker mit juristischem Bildungshintergrund gegenwärtig versichern, völkerrechtlich sei die Militärintervention gegen den Irak am besten nicht zu erörtern? Wenn uns mitgeteilt wird, hier gehe es um einen Streit der Juristen, Aufgabe der deutschen Politiker sei es hingegen, die richtigen Entscheidungen zu treffen? Konkret gesprochen: Überflugrechte, Nutzung und Sicherung von US-Militäreinrichtungen in Deutschland und die Teilnahme an Awacs-Erkundungsflügen über der Türkei – all diese logistischen Maßnahmen zugunsten der amerikanischen Kriegsführung gehörten angeblich in einen Bereich, der im Interesse einer langfristigen Bündnispolitik mit den USA vor kurzsichtiger Rechthaberei geschützt werden müsse.
Jeder, der sich mit Juristerei beschäftigt hat, weiß, dass Rechtsfragen häufig umstritten sind und dass beispielsweise einer Regierung, die vom Bundesverfassungsgericht ein Gesetz um die Ohren gehauen bekommen hat, noch längst nicht unterstellt werden kann, sie habe vorsätzlich das Recht gebrochen. Offensichtlich geht es aber bei der rechtlichen Bewertung der deutschen logistischen Hilfsmaßnahmen um einen anderen Fragenkomplex. Die Bundesregierung wie auch der für Außenpolitik zuständige CDU-Obere Wolfgang Schäuble vertreten gar keine Rechtsposition zur Frage, ob es sich bei dem Angriff auf den Irak um einen völkerrechts- und grundgesetzwidrigen Angriffskrieg handelt. Sie halten sich vielmehr an die Maxime: „Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.“
Wie sich zeigt, ist diese scheinbar pragmatisch so gewitzte Position jetzt nicht mehr haltbar. Schon vor dem drohenden türkischen Einfall in den Nordirak haben die deutschen Besetzungen der Awacs-Flugzeuge durch ihren Sprecher dringlich nachfragen lassen, ob ihr Einsatz durch ein Mandat des Bundestags wenigstens parlamentarisch abgesichert werden könne. Auch sie trügen schließlich rechtliche Mitverantwortung für ihr militärisches Handeln. Aber auch wenn die Bundesregierung entscheiden sollte, dass im Falle der Türkei eine Beistandspflicht nach dem Nato-Statut nicht mehr vorliegt (sie hat in Wirklichkeit nie vorgelegen), bleibt damit das Verhältnis von Völkerrecht und Politik absichtsvoll eingenebelt.
Wenn man sich, wie der Bundeskanzler, über ein nahezu einhelliges Votum der deutschen Völkerrechtswissenschaft gegen die Legalität des Krieges mit einem „Lassen wir die Juristerei“ hinwegsetzt, so drängt sich zunächst die Frage der politischen Konsistenz mit rot-grünen Politikgrundsätzen auf. Oberster außenpolitischer Grundsatz war immer die Festigung des Rechts in den internationalen Beziehungen. Selbst das völkerrechtswidrige Bombardement Jugoslawiens 1999 wurde noch, wenngleich untauglich, im Rahmen der völkerrechtlich zulässigen Nothilfe für die von Massenvertreibungen betroffenen Kosovaren interpretiert. Stets ging es darum, an die Stelle von Machtbeziehungen Rechtsbeziehungen zu setzen.
Die Bundesregierung befindet sich also in einem eklatanten programmatischen Selbstwiderspruch, wenn sie jetzt schweigt. Denn wenn die USA, die sich weder einem drohenden Angriff gegenübersahen noch über ein Mandat des Sicherheitsrats verfügten, im Irak intervenieren, dann zerstören sie durch eben diese Politik das Netz der Verrechtlichung, das mitzuknüpfen sich unsere Regierung verpflichtet hat.
Die Gründe für diesen Widerspuch liegen jenseits des Rechts. Sie fußen auf einer falschen, historisch überholten und gefährlich Bestimmung der deutschen wie der europäischen Interessenlage. In den vergangenen Jahren wurden wir ebenso oft wie richtig darüber belehrt, dass es erstens im deutschen Interesse liege, die Europäische Union zu festigen, und dass zweitens dieser europäische Einigungsprozess dazu dienen müsse, internationale, bewaffnete Konflikte friedlich zu beenden. Hier ging und geht es nicht nur um hehre Prinzipien, sondern um wohlverstandenes Eigeninteresse, um eine ausgehandelte internationale Ordnung, ganz wie es Immanuel Kant vorgeschlagen hatte, durchaus kein hohler Utopist, sondern Realpolitiker.
Jetzt stellt sich heraus, dass die US-Politik diesen Interessen diametral zuwiderläuft – statt langfristiger multilateraler Verträge und Abmachungen eine nur auf die eigene Stärke setzende Hegemonialpolitik und Ad-hoc-Koalitionen zu deren Durchsetzung. Hegemonie heißt hier: Wer sich unterordnet, wer mitzieht, ist uns als „Williger“ (man bedenke nur die Wortwahl!) willkommen. Der Rest wird traktiert. Es gibt keinen Interessenausgleich mehr. Demgegenüber heißt das Zauberwort europäischer Politik Interdependenz, gegenseitige Rechtsbindung, Vertrauen auf Öffnung, auf die wohltätige Wikung von Lernprozessen.
Dies ist eine schematische Gegenüberstellung, mit der keineswegs verschwiegen werden soll, dass auch die europäischen Machteliten ihren Kontinent gegenüber der armen Welt abschotten wollen und um Positionen auf dem Weltmarkt kämpfen. Aber diese Linie ist durchlässiger für fortschrittliche Bewegungen und deren Ziele, sie kann eher Kompromisse schließen. Man muss politisch blind sein, wenn man Rumsfelds Rede vom „alten Europa“ nur im Rahmen einer kulturellen Auseinandersetzung interpretiert.
Es geht um Spaltung, um Schwächung der politischen wie ökonomischen Konkurrenz. Auch die angeblich nur von den USA zu garantierende militärische Sicherheit erweist sich als Schimäre. Die Nato ist militärisch präsent, aber politisch mausetot. Was de Gaulle misslang – Bush hat es geschafft.
Jetzt ist die Europäische Union am Zug. Und sie steht unter dem Druck eines überwältigenden Friedenswillens ihrer Bewohner. Auch die osteuropäischen Beitrittsländer, die noch einer überkommenen Staatsraison vom notwendigen Schutz durch die USA anhängen, werden sich dieser gesellschaftlichen Strömung nicht entziehen können.
Die führenden deutschen Politiker schrecken im Gegensatz zu den französischen immer noch davor zurück, die Konsequenzen aus dieser neuen Sachlage zu ziehen. Sie suchen die Balance, kritisieren – wie Schäuble – den amerikanischen Hegemonismus, um im gleichen Satz die amerikanische Irakpolitik zu unterstützen. Aber die Einheit von transatlantischer und europäischer Orientierung, das jahrzehntelange Dogma, es ist nicht mehr durchzuhalten.
Diese Wende der Wegzeichen bringen schwierige taktische Entscheidungen mit sich, die nicht irgendwann, sondern jetzt getroffen werden müssen. Gerade hier wird das Beharren auf Rechtspositionen wichtig. Die von unseren Politikern so gefürchtete Charakterisierung der US-Intervention als völkerrechtswidrig kann dazu dienen, dem Postulat der Verrechtlichung internationaler Beziehungen – gerade im Rahmen der Vereinten Nationen – Rückhalt zu geben. CHRISTIAN SEMLER