: Nicht alle Macht dem Volk
Freie Wahlen im Irak sind den USA ein zu gefährliches Abenteuer – bisher gibt es für einen Einsatz der Amerikaner für die Demokratisierung der Region einfach keinen Beleg
Amerika zieht in den Krieg, um dem Irak und dem Nahen Osten die Demokratie zu bringen – sagt George Bush. Einen konkreten Plan, wie das bewerkstelligt werden soll, hat er aber nicht. Das „Abenteuer Demokratisierung“ ist dennoch die einzige Chance für die USA, ihrem rasanten Ansehensverfall, dem sie nach dem Anzetteln eines völkerrechtswidrigen Krieges anheim fallen, entgegenzuwirken.
Für den Regimewechsel im Irak sind seit 1991 in US-Regierungskreisen zwei grundlegende Szenarien diskutiert worden. Das eine ist ein „peripherer“ Umsturz Saddam Husseins durch die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden. Die Variante basiert auf der Idee, dass Husseins Regime im Grunde die Diktatur einer Minderheit sunnitischer Muslime darstellt, die mit Hilfe der Ideologie des arabischen Nationalismus der Baath-Partei und durch Klientel- und Klanbeziehungen aufrechterhalten wird. Diese Analyse ist richtig – wer den Irak demokratisieren will, muss der Mehrheit der Bevölkerung, den überwiegend im Süden lebenden Schiiten, die Herrschaft überlassen und die Kurden beteiligen.
Fänden faire Wahlen statt, sie würden durch die Schiiten entschieden. Unklar ist, welche Politik sie verfolgen würden, denn eine unabhängige Befragung dieser Bevölkerung war bislang nie möglich. Es ist keineswegs sicher, dass die Schiiten einen islamischen Staat mit starken Bindungen zu Iran befürworten würden. Immerhin haben auch sie im Krieg 1980–88 gegen den Nachbarn gekämpft. Doch natürlich gibt es starke politische Kräfte innerhalb dieser muslimischen Glaubensrichtung, die für eine Annäherung an Iran plädieren – dies wollen die USA unbedingt verhindern. Deshalb wird man einen Umsturz durch die Schiiten verhindern, Wahlen nach einer Invasion verzögern und nur Politiker zur Wahl zulassen, die sich Amerikas Sicht des Iran unterordnen.
In einem „peripheren“ Wechselszenario sind auch die Kurden ein Unsicherheitsfaktor für die USA. Sie drohen mit einem Zweifrontenkampf gegen Bagdad und die Türkei und könnten leicht in einen internen Bürgerkrieg verstrickt werden. Auch die politischen Absichten der Kurden sind unklar. Autonomie innerhalb des irakischen Mutterlandes? Oder doch ein separater kurdischer Staat? Diese Option war für die USA bislang undenkbar wegen des Widerstands des Verbündeten Türkei, der Unruhen der Kurden in seinem Land fürchtet. Ankara erleidet aber derzeit einen rapiden Bedeutungsverlust für die USA. Bald werden sie militärisch so massiv im Nahen Osten, in Saudi-Arabien, den Golfstaaten und Irak, und in Afghanistan und Zentralasien präsent sein, dass die strategische Bedeutung der Türkei für sie abnimmt. Es gibt also eine kleine Chance für einen kurdischen Staat – mehr nicht.
Wesentlich wahrscheinlicher als das risikoreiche „periphere“ ist ein „zentrales“ Szenarium. Die USA würden hier im Apparat Saddam Husseins nach einer präsentablen Führungsmannschaft suchen, die das alte System kennt und sich – zumindest formal – auf einen Demokratisierungsprozess verpflichtet: alte Baathisten, mindestens aber Mitglieder der sunnitischen Minderheit. Wie repräsentativ diese Kräfte sein werden, wird nebensächlich sein.
Bei der Suche nach einer amerikafreundlichen Führungsfigur sind die USA in der irakischen Opposition bislang nicht fündig geworden. Dass Achmed Chalabi, der Führer des Irakischen Nationalkongresses in Washington, es wird, ist unwahrscheinlich, denn er verfügt kaum über Rückhalt bei den Irakern und ist in Jordanien in Abwesenheit wegen Bankbetrugs verurteilt worden. Nach der geplanten amerikanischen Eroberung wird die Suche nach einer Führungsfigur wohl erst richtig losgehen. Und um das „Abenteuer Demokratisierung“ kalkulierbarer zu machen, wird langfristig ein amerikanisches Militärprotektorat mit einem Gouverneur und General Franks an dessen Seite eingesetzt werden. Unwahrscheinlich ist, dass rasch Wahlen abgehalten werden. Am Ende mögen die Amerikaner sich gezwungen sehen, das irakische Militär an die Spitze des Landes zu setzen.
Selbst wenn man von dem Idealfall ausgeht, dass alle politischen Parteien und Gruppen sich zur Integrität des Irak bekennen und freien Wahlen zustimmen würden, wäre fraglich, ob die USA einer unabhängigen irakischen Regierung freie Hand ließen. Eine solche Regierung würde nämlich als Erstes die Kontrolle über das irakische Erdöl zurückverlangen, mit dem die Amerikaner ihre Kriegsunkosten decken wollen. Die Konzessionen sind bereits verplant, sie wollen sie als strategisches Unterpfand einer Preiskontrolle der asiatischen Zukunftsmärkte China und Indien einsetzen.
Historisch gibt es einfach keinen Beleg für einen konkreten Einsatz der Amerikaner für die Demokratisierung im Nahen Osten. Im Gegenteil. Als die demokratische Regierung Mossadegh in Iran das Erdöl verstaatlichte, wurde sie 1953 auf Betreiben der USA und der CIA gestürzt. Wie glaubhaft ist ein völliger prodemokratischer Paradigmenwechsel einer amerikanischen Regierung, die bislang ausnahmslos mit Diktatoren kooperiert hat – etwa in Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien? Eine Abkehr von der Macht- und Interessenpolitik gerade der Regierung Bush attestieren zu wollen, die das Völkerrecht ignoriert, ist so einleuchtend, wie es wäre, wenn man Ajatollah Chomeini posthum zum Papst erklären würde.
Hätten die Amerikaner auch die besten Absichten zur Demokratisierung, sprächen dennoch kulturelle Faktoren gegen deren gewaltsame Durchsetzung. Sieht man von den Bewohnern Kuwaits und der Golfstaaten ab, so wird die amerikanische Präsenz in der Nahostregion nahezu durchgehend abgelehnt. Demokratische „Umerziehung“ auf der Basis einer militärischen Zwangsherrschaft ist nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa gelungen. Aber ein Vergleich mit dem Nahen Osten hinkt. Und zwar nicht weil Iraker und Araber kulturell nicht demokratiefähig wären, sondern weil die internationale Ausgangslage eine andere ist. Die Amerikaner kamen als Nachfahren der Europäer Europa in seiner schwärzesten Stunde zu Hilfe. Dieses Empfinden hat die arabische Welt nicht. Aus ihrer Sicht sind die Amerikaner Nachfahren der einstigen Kolonialmächte. Dieser Unterschied in der Ausgangslage wird den Antiamerikanismus in der Region weiter fördern, bis hin zu wachsender Terrorgefahr.
Insgesamt sind Demokratisierung und Humanität als Motive des Krieges schlimmstenfalls eine ideologische Verblendung, bestenfalls ein naiver Selbstbetrug. Nicht nur der Weg zur Demokratie, der Krieg mit seinen Opfern, sondern auch das politische Ziel, eine durch Amerika bewerkstelligte Demokratisierung, ist als utopisch und unehrlich zu kritisieren. Der neue Kolonialismus der USA ist eben kein „humanitärer Imperialismus“, wie der außenpolitische Berater von Tony Blair, Robert Cooper, sich das wünscht. Er ist ein von amerikanischen Interessen geleiteter Kolonialismus, der seinem Wesen nach undemokratisch bleiben wird. KAI HAFEZ