: Der Untergang des US-Imperiums
Amerika verliert zusehends seine Macht und setzt daher auf einen demonstrativen Militarismus. Dagegen müssen sich Europäer mit Russen verbünden und die UNO stärken
Unter Schmerzen finden weltweit Umbrüche bei Bildung und Bevölkerungsentwicklung statt, und dabei bewegt sich die Welt in Richtung Stabilität. Die Länder der Dritten Welt sind bei all ihren ideologischen und religiösen Aufwallungen auf dem Weg zu Entwicklung und mehr Demokratie. Es gibt keine globale Bedrohung, die ein besonderes Engagement der Vereinigten Staaten zum Schutz der Freiheit erfordert. Nur eine einzige Bedrohung schwebt heute über dem weltweiten Gleichgewicht: Amerika selbst ist von einer den Frieden schützenden zu einer räuberischen Macht geworden.
Aber die Welt ist heute zu groß, zu bevölkert und zu vielfältig, sie wird von zu vielen unkontrollierbaren Kräften bewegt. Keine noch so intelligente Strategie erlaubt es Amerika, seine halbimperiale Situation in ein Imperium de jure und de facto zu verwandeln. Amerika ist dafür wirtschaftlich, militärisch und ideologisch zu schwach. Deshalb löst jeder Schritt, der Amerikas Zugriff auf die Welt verstärken soll, nur negative Rückwirkungen aus, die seine strategische Position weiter schwächen.
Was ist in den letzten zehn Jahren geschehen? Zwei sehr reale Weltreiche standen sich gegenüber. Eines der beiden, das sowjetische, ist inzwischen zerfallen. Das andere, das amerikanische, stand ebenso in einem Prozess der Auflösung. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat jedoch die Illusion erzeugt, dass Amerika zur absoluten Macht gelangt wäre. Doch für eine stabile weltweite Hegemonie hätten bei den realen Kräftebeziehungen zwei Bedingungen erfüllt sein müssen:
Erstens hätte Amerika uneingeschränkt die Macht über sein europäisches und sein japanisches Protektorat behalten müssen, die beiden Pole, wo mittlerweile reale wirtschaftliche Macht versammelt ist. Reale Wirtschaft heißt in diesem Zusammenhang, dass produziert wird und nicht nur konsumiert.
Zweitens müsste die strategische Macht Russlands endgültig zerschlagen werden: Die ehemalige sowjetische Einflusssphäre müsste sich vollkommen auflösen, das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens müsste vorüber sein, so dass nur noch Amerika allein in der Lage wäre, einen Schlag zu führen, einseitig und ohne das Risiko auch nur der geringsten Vergeltung von irgendeinem Land auf der Erde.
Weder das eine noch das andere Ziel wurde erreicht. Ungehindert konnte Europa seinen Weg zu Einheit und Autonomie gehen. Weitgehend unbemerkt hat Japan seine Fähigkeit bewahrt, allein zu handeln, falls ihm eines Tages der Sinn danach steht. Russland stabilisiert sich und beginnt, konfrontiert mit dem theatralischen Neoimperialismus der Vereinigten Staaten, seinen Militärapparat zu modernisieren. Ideenreich und wirkungsvoll spielt es wieder mit auf dem außenpolitischen Schachbrett.
Da Amerika diese wahren Mächte der heutigen Welt nicht kontrollieren kann, musste es, um wenigstens den Anschein einer Weltmacht zu wahren, außenpolitisch und militärisch gegenüber unbedeutenden Staaten aktiv werden: gegen die Achse des Bösen und gegen die arabische Welt, zwei Sphären, deren Schnittmenge der Irak bildet. Das militärische Handeln ist nach Intensität und Risiko irgendwo zwischen echtem Krieg und einem Videospiel angesiedelt. Man verhängt Embargos über Länder, die sich nicht wehren können, man wirft Bomben auf unbedeutende Armeen. Immer raffiniertere Waffensysteme werden konstruiert und produziert, die genauso präzise sind wie die Waffen in Videospielen, aber in der Praxis setzt man unbewaffnete Zivilisten Bombardierungen aus, die dem Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg nicht nachstehen.
Der demonstrative Militarismus Amerikas, der dazu dienen soll, die militärtechnische Unterlegenheit aller anderen Akteure weltweit vorzuführen, hat schließlich die wahren Mächte der Erde beunruhigt und sie zur Annäherung veranlasst: Europa, Japan und Russland. Hier erweist sich die amerikanische Taktik als besonders kontraproduktiv. Die verantwortlichen Politiker in den Vereinigen Staaten glaubten, sie würden höchstens eine Annäherung zwischen der Großmacht Russland und den beiden weniger bedeutenden Mächten China und Iran riskieren, während Japan und Europa ihnen als Protektorate erhalten bleiben würden. Tatsächlich aber riskieren die Vereinigten Staaten, wenn sie sich nicht besinnen, eine Annäherung zwischen einer bedeutenden Nuklearmacht, Russland und zwei dominierenden Wirtschaftsmächten, Europa und Japan.
Europa wird sich langsam der Tatsache bewusst, dass Russland keine strategische Bedrohung mehr darstellt – sondern im Gegenteil einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet. Die Einbeziehung Russlands in die Konsultations- und warum nicht auch in die Entscheidungsprozesse innerhalb der Nato wird nach und nach für die Europäer zu einer wirklich reizvollen Perspektive, weil damit ein strategisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten etabliert würde.
Für die Liebhaber theoretischer Modelle ist das Verhalten Amerikas eine ausgezeichnete Gelegenheit zu studieren, wie zuverlässig negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist. Vor dieser Folie können wir nur versuchen, die Entstehung einer vernünftigen politischen Superstruktur zu erleichtern und gewaltsame Konfrontationen möglichst zu verhindern.
In dem Zustand der Unsicherheit, in dem sich die amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft heute befinden, ist das Gleichgewicht der atomaren Abschreckung nach wie vor unverzichtbar, ob es nun durch das russische Waffenarsenal aufrechterhalten wird oder ob die Europäer ein gemeinsames Abschreckungspotenzial aufbauen. Europa und Japan müssen direkt mit Russland, dem Iran und der arabischen Welt über die Sicherung ihrer Ölversorgung verhandeln. Sie haben keinen Grund, sich auf militärische Showinterventionen nach amerikanischem Vorbild einzulassen.
Die Vereinten Nationen müssen als Vertretung einer bestimmten Weltanschauung wie als politische Organisation die Institution werden, die weltweit für Ausgleich sorgt. Damit die große Weltorganisation effizienter sein kann, muss sie die realen ökonomischen Kräfteverhältnisse stärker einbeziehen und ihnen genauer Rechnung tragen. In einer Welt, wo Krieg mit ökonomischen Mitteln geführt wird, müssen die beiden großen Wirtschaftsmächte Japan und Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben. Ein Beitrag zur Anpassung der politischen Superstruktur der Welt an die ökonomischen Realitäten könnte auch darin bestehen, dass die Standorte einiger Weltorganisationen von den Vereinigten Staaten nach Eurasien verlegt würden.
Bei diesen Vorschlägen geht es um sehr viel mehr als eine institutionelle Form. Worauf es wirklich ankommt: dass wir uns der tatsächlichen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse auf unserem Planeten bewusst werden. Wenn die Welt durch das natürliche Spiel der demografischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte wirklich zu Gleichgewicht und friedlichem Ausgleich tendiert, dann bedarf es keiner großen Strategie. Doch wichtig ist: Wir dürfen nicht vergessen, dass heute wie gestern die großen bewegenden Kräfte Demografie und Bildung sind und dass die wahre Macht wirtschaftlicher Natur ist.
Es nützt nichts, wenn wir uns in das Trugbild einer militärischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten verrennen, einer militärischen Pseudokonkurrenz, mit der Folge, dass wir dauernd irgendwo in Ländern ohne wirkliche strategische Bedeutung intervenieren. Wir dürfen nicht nach dem Vorbild der amerikanischen Armee das Konzept des Kriegsschauplatzes ersetzen durch ein Konzept des Kriegsschauspieles. Sollten wir an der Seite der Vereinigten Staaten im Irak intervenieren, würden wir eine Komparsenrolle in einer blutigen Posse übernehmen. Im 20. Jahrhundert ist es keinem Land gelungen, seine Macht durch Krieg oder auch nur durch Aufrüstung zu vergrößern. Frankreich, Deutschland, Japan und Russland haben durch Krieg und Rüstungswettlauf unendlich viel verloren. Die Vereinigten Staaten haben sich als Sieger des 20. Jahrhunderts behauptet, weil es ihnen über einen sehr langen Zeitraum gelungen ist, sich nicht in die militärischen Auseinandersetzungen der Alten Welt hineinziehen zu lassen. Folgen wir dem Beispiel dieses Amerika, des erfolgreichen Amerika. EMMANUEL TODD
© Piper Verlag GmbH, München 2003