: Böse Folter – gute Folter
Menschenrechte sind inzwischen auch in den westlichen Demokratien bedroht. Seit dem 11. September ist der Ausnahmezustand dort Normalität – fast alles scheint erlaubt
Wirklich überraschend hat uns die Folterdebatte hierzulande nicht ereilt. In Zeiten des „Krieges gegen den Terror“ weichen seit dem 11. 9. 2001 menschenrechtliche Standards auf, die zuvor Konsens waren. Sie wackeln nicht nur bei den üblichen Verdächtigen, sondern in rechtstaatlichen Demokratien, bei den „Hütern der Menschenrechte“. Die „juristische Revolution“, die nach 1945 Menschenrechte weltweit als Maßstab politischen Handelns etablierte, erlebt derzeit einen ihrer schwersten Rückschläge.
Weltweit werden Freiheitsrechte beschnitten. Was mit den angeblichen Terroristen geschieht, die die USA in ihrer Basis Guantánamo auf Kuba festhalten, bleibt im Dunkeln. Klar ist nur, dass ihnen völkerrechtliche Mindeststandards über Anklageerhebung und Haftbedingungen vorenthalten werden. Die Regierungen in Washington, London oder Berlin segnen Russlands schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien als „Antiterrormaßnahme“ ab. Autoritäre Regime freuen sich, dass sie unbequeme Gruppen nun mit dem Plazet der Weltöffentlichkeit verfolgen können, wenn sie sie nur deutlich genug zu „Terroristen“ stempeln. Auch die jetzige Debatte um Folter gehört in diesen Zeitgeist. Politik und Medien operieren unter einem permanenten diskursiven Kriegszustand. Dieser Diskurs erklärt den Ausnahmezustand zur Normalität und macht geltend, dass angesichts völlig neuer Herausforderungen menschenrechtliche Grundsätze nicht immer zu halten seien. Aus Menschenrechtssicht herrscht Alarmstufe Gelb.
Eine möglicherweise gezielt lancierte FBI-Äußerung trat im Oktober 2001 in den USA eine öffentliche Diskussion los. Dürfen Terroristen gefoltert werden? 45 Prozent der US-Bürger sagten in einer Umfrage Ja. Das sind weniger als die 63 Prozent, die sie jetzt in Deutschland laut einer Forsa-Umfrage unter bestimmten Umständen für zulässig halten. Dafür hat Folter durch US-Staatsvertreter – direkt oder mittelbar – die weitaus besseren Praxiswerte. Laut Medienberichten liefern US-Geheimdienste Terrorverdächtige gezielt an Länder aus, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Die Liste der Fragen, auf die die verschärften Vernehmungen die Antworten herausfoltern sollen, liefern die CIA-Beamten gleich mit. In verschiedenen Haftanstalten der USA kommt es zu Misshandlungen und Folter, wie amnesty international (ai) dokumentiert.
Auch was die Folter angeht, sind wir über die theoretische Debatte schon hinaus. Umso dringlicher gilt es, am Folterverbot so festzuhalten, wie es das Völkerrecht nach langem Überlegen und eingedenk schwer lastender historischer Erfahrung gefasst hat: absolut, abwägungsfest, unverfügbar. Im Verlauf der Debatte der letzten zwei Wochen haben empörte BürgerInnen Menschenrechtsorganisationen wie ai vorgehalten, sie schützten die Täter; sie wendeten sich gegen „ein bisschen Schmerz“ und riskierten dafür das Leben eines Kindes oder zehntausender bombenbedrohter Zivilisten. Natürlich ließe sich auch im Einzelfall einiges einwenden. Wenn der Mordverdächtige Magnus G. nicht geredet hätte – wie weit würden deutsche Polizisten dann gehen? Und würden sie gegebenenfalls auch die Mutter foltern? Aus gutem Grund dürfen erfolterte Aussagen vor Gericht nicht verwendet werden: Viele Geständnisse reden nicht der Wahrheit, sondern dem Folterer das Wort. Zu jedem Szenario lassen sich Gegenszenarien konstruieren, die die Problematik von „ein bisschen Folter“ deutlich machen. Es gibt keine klare Möglichkeit, „Grenzfälle“ zu isolieren. Grundsätzlich ist die Einzelfalldiskussion der falsche Weg. Sie bedient die angebliche Unabwendbarkeit, die uns der Diskurs des permanenten Kriegszustands suggeriert. Sie öffnet dem Missbrauch Tür und Tor und setzt uns auf die abschüssige Bahn vom Rechtsstaat zum Polizeistaat. Jede Legalisierung von Folter trägt dazu bei, Folter zu verbreiten.
Dass dies viele nicht einsehen wollen oder nicht begreifen können, ist der größte Schaden, den die Diskussion der vergangenen Wochen hinterlassen hat. Menschenrechte, daran sei erinnert, sind keine Dreingabe festlich gestimmter Realpolitik. Sie sind zu rechtsstaatlicher Kernsubstanz geronnene Erfahrung einer politisch-menschlichen Leidensgeschichte. Ungeachtet der Vielzahl von Konventionen sind sie schwach, leicht zu umgehen, schwer durchzusetzen. Immer noch werden in weit über hundert Staaten der Erde Menschen im Namen des Staates gefoltert und misshandelt. In rund siebzig Staaten geschieht dies weit verbreitet und systematisch, viele von ihnen haben UN-Konventionen unterschrieben, die die Folter verbieten.
Menschenrechte brauchen Schutz. Sie brauchen VerteidigerInnen. Es reicht nicht, wenn Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international das tun. Polizei(vize)präsidenten, Ministerpräsidenten, Justizministerinnen, Richterbundvorsitzende müssen sich unzweideutig zu den Grundlagen des Rechtsstaates bekennen, den sie repräsentieren – gerade, wenn eine Stimmungslage diese Grundlagen anzweifelt. Sie sind auf ihre Posten gelangt, weil und damit sie es besser wissen. Wenn FunktionsträgerInnen von Staat und Justiz das Folterverbot in Frage stellen, handeln sie unverantwortlich. Und in der Luft hängt ein fauler Geruch von Stimmungsmache.
Doch die Menschenrechte brauchen noch mehr. Sie brauchen die Einzelne und den Einzelnen. Wenn über die Hälfte der Deutschen Folter zulassen will, wird deutlich, dass diese Mehrheit Menschenrechte nicht als etwas begreift, was ihr ganz persönlich zukommt, was sie braucht. Viele unterscheiden zwischen bösen Folterern in totalitären Regimen und Zwangsmitteln, also einer „guten Folter“, die Antiterrorkämpfern erlaubt sein müsse. Sie sehen nicht das strukturell Gemeinsame, nicht die Gefahr für das eigene Gemeinwesen. Überhaupt ist der Wissensstand über Menschenrechte niedrig. Eine kürzlich vorgestellte Studie der Universität Leipzig ergab, dass die Hälfte der Deutschen nicht mehr als 3 der 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ihrem Inhalt nach benennen kann. Die Aufnahme der Menschenrechtsbildung in die Lehrpläne der deutschen Schulen hat die Kultusministerkonferenz zwar schon 1980 empfohlen, doch allein Nordrhein-Westfalen hat diese Empfehlung in einen verbindlichen Erlass umgesetzt. Und wer hätte gewusst, dass wir uns bereits am Ende der UN-Dekade zur Menschenrechtsbildung befinden?
60 Jahre nach der Primärerfahrung, die die „juristische Revolution“ auslöste, müssen wir den Nachgewachsenen deutlich machen: Sie schützen sich und ihr Lebensumfeld am besten, wenn sie auf den Menschenrechten bestehen, und dies bei ihren Kernsätzen – wie dem Folterverbot – bedingungslos. Wer glaubt, persönliche oder staatliche Sicherheit basiere auf Gewalt und sei gegen die Menschenrechte zu erlangen, hat seine Geschichte nicht verstanden.
DAWID DANILO BARTELT