: Die Stimme aus dem Grab
Saddams Schwiegersohn dient als wichtige Quelle für Vorwürfe gegen den Irak. Seine Aussagen werden nur einseitig zitiert
aus Genf ANDREAS ZUMACH
Er war der wichtigste Kronzeuge für die Existenz von Massenvernichtungswaffen, ballistischen Raketen sowie entsprechenden Rüstungsprogrammen im Irak bis zum Golfkrieg von 1991: General Hussein Kamal, Schwiegersohn von Saddam Hussein, von 1985 bis Mitte 1995 Industrieminister in Bagdad und zugleich oberster Chef der irakischen Rüstungsindustrie. Am 7. August 1995 setzte sich Kamal zusammen mit seinem Bruder, Hauptmann Saddam Kamal, nach Jordanien ab. Fünfzehn Tage später packte er in Amman vor den damaligen Chefinspektoren der UNO-Sonderkommission im Irak (Unscom) und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) aus (siehe Dokumentation unten).
Kamal bestätigte den Inspektoren, dass Irak bis zum Golfkrieg ein Programm zur Entwicklung von Anthrax und anderen biologischen Waffen betrieb. Bagdad hatte diese Tatsache bis dato gegenüber der Unscom immer hartnäckig bestritten. Mit den Aussagen Kamals konfrontiert, führte die irakische Regierung die Inspektoren wenige Tage später auf eine Hühnerfarm, auf der Dokumente und Belege für das B-Waffenprogramm versteckt waren.
Weiter bestätigte Kamal den Inspektoren auch zahlreiche Einzelheiten über die irakischen Rüstungsprogramme für atomare und chemische Waffen sowie für ballistische Raketen. Wie groß die Bedeutung der Aussagen Kamals für die Arbeit der UNO-Inspektoren war, geht aus ihrem Abschlussbericht an den UNO-Sicherheitsrat vom 25. Januar 1999 hervor. Dort heißt es wörtlich: „Die gesamte Periode der Unscom-Mission von Mai 1991 bis Dezember 1998 gliedert sich in zwei Teile: die Zeit vor der Flucht von General Hussein Kamal im August 1995 und die Zeit danach.“
Einige Wochen nach dem Treffen von Amman wiederholte Kamal seine Aussagen gegenüber Agenten des US-Geheimdiensts CIA und des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6. Zuvor hatten beide Geheimdienste nach Informationen der taz das Protokoll von Kamals Unterredung mit den UNO-Inspekteuren erhalten.
Von den Regierungen der USA und Großbritanniens wird Kamal seit seiner Flucht aus dem Irak und insbesondere in den letzten Monaten immer wieder als wichtigster und glaubwürdiger Zeuge angeführt dafür, dass angeblich bis heute verbotene Waffen und Rüstungsprogramme im Irak existieren. Die IAEO und der Unscom-Nachfolger Unmovic haben dieser Darstellung bislang nie widersprochen.
Dabei verschweigen alle Beteiligten bis heute wesentliche Aussagen, die Kamal im Sommer 1995 ebenfalls gemacht hat. Laut dem Protokoll seiner Unterredung mit den Chefinspekteuren von Unscom und IAEO, das der taz vollständig vorliegt, erklärte Kamal mehrfach ausdrücklich, auf seine Anweisung hin seien sämtliche Rüstungsprogramme, die dem Irak seit Ende des Golfkriegs verboten sind, spätestens 1991 eingestellt und alle bis dato existierenden Waffen und Grundsubstanzen zerstört worden. Die Regierung habe allerdings Baupläne für diverse Waffen, Computerprogramme und Gussformen für Raketen sowie Raketenabschussrampen an geheimen Orten versteckt, um Rüstungsprogramme später wieder aufnehmen zu können.
Mitglieder von Unscom, IAEO und Unmovic liefern auf Nachfrage zwei Erklärungen, warum diese Aussagen Kamals bis heute geheim gehalten wurden: Zum einen sollte Saddam Hussein damals nicht alles erfahren, was Kamal verraten hatte. Man habe gehofft, das Regime so zur Offenlegung weiterer Informationen verleiten zu können. Zum anderen fehlten in vielen Fällen die Dokumentenbelege für die von Kamal behauptete Einstellung von Rüstungsprogrammen und die Zerstörung von Waffen. Der Kronzeuge Kamal kann nicht mehr befragt werden. Einige Monate nach seiner Flucht kehrte er – nach einer Amnestiezusage seines Schwiegervaters – gemeinsam mit seinem Bruder in den Irak zurück. Einen Tag nach ihrer Heimkehr wurden die beiden Männer auf Befehl des Regimes ermordet. Nach der in Bagdad verbreiteten offiziellen Version „durch aufgebrachte Mitglieder ihrer eigenen Familie“.