: „Das ist doch keine Politik!“
Stuart Lynn zieht am Ende seiner Präsidentschaft der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) Bilanz: Das System der Namensadressen funktioniert auch ohne weltweite Wahlen
Interview KONRAD LISCHKA
taz: Noch bis März leiten Sie Icann. Waren Sie ein erfolgreicher Präsident?
Stuart Lynn: Ich bin nicht derjenige, der das zu beurteilen hat. Das müssen andere tun. Aber der Reformprozess kommt gut voran.
Einige sehr lautstarke Kritiker glauben das nicht.
Es sind weniger geworden.
Die Vorwürfe aber dieselben: mangelnde Transparenz, mangelnde Legitimation. Warum hat eine so junge Organisation so erbitterte Feinde?
Erbitterte Feinde würde ich nicht sagen. Insgesamt hat die Kritik auch abgenommen. Es gibt einzelne, sehr scharfe Stimmen. Die werden von der Presse verstärkt.
Nun …
Aber natürlich gibt es berechtigte Kritik. Manche Menschen bekommen nicht, was sie wollen.
Ist das überraschend?
Ich finde, nicht. Icann wurde als ein offenes Forum geschaffen. Unterschiedlichste Ansichten sollen aufeinander treffen, diskutiert werden, und irgendwann kommen die meisten Parteien zu einem Konsens. Dass es bei Diskussionen harte Kritik gibt, dass manche mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind, das liegt doch in der Natur der Sache. Nur bauscht die Presse jene einzelnen scharfen Stimmen auf, weil sie versucht, eine Geschichte zu bekommen.
Bleibt der eigentliche Grund für diesen Aufruhr nicht unbeachtet? Icann trifft zwar technische Entscheidungen, doch die haben politische Wirkung.
Nein, nein – wir habe eine technische Rolle. Okay, wir legen auch bestimmte Verfahrensweisen fest, wie manche Konflikte zu lösen sind. Zum Beispiel die „Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy“, UDRP. Doch das ist keine Politik.
Aber gerade die UDRP bevorzugt laut Kritikern Markeninhaber gegenüber Aktivisten oder Privatleuten.
Kritiker! Wissen Sie, wie viele Konflikte mit der UDRP gelöst wurden? Über 3.000! Nur ganz wenige dieser Entscheidungen sind umstritten. Insgesamt wird das Verfahren von der großen Mehrheit der Betroffenen geschätzt. Aber manche Menschen sind einfach begierig, negativ zu sein.
Auch technische Entscheidungen sind politisch. Zum Beispiel, wie viele Domain-Endungen es gibt.
Wenn Sie mit „politisch“ Verfahrensfragen meinen – definitiv. Icann arbeitet hier als Forum, das verschiedene Gemeinschaften mit verschiedenen Ansichten zusammenbringt. Letztlich entscheidet sich dann, wer welche Top-Level Domains verwalten darf, wie viel er dafür zahlen muss.
Wenn Icann also auch politische Fragen berührt, ist dann nicht eine andere Legitimation nötig? Kommt nicht daher die scharfe Kritik?
Soll ich Ihnen unsere wesentliche Legitimation nennen? Das Domain Name System funktioniert! Oder hatten Sie irgendwelche Probleme mit dem Internet?
Keine jedenfalls, die Icann lösen könnte.
Also.
Selbstregulierung ist also zwischenstaatlichen Lösungen überlegen? Weil technische Fragen nicht durch Politisierung verschleppt werden?
Wir bringen viele Organisationen an einen Tisch – nicht nur Regierungen. Wir regulieren auch nicht! Wir schaffen ein Forum für Wirtschaft, Techniker, Nutzer und Regierungen. Wichtig dabei ist: Es entsteht ein freiwilliger Konsens zwischen den Parteien von oben nach unten. Es wird nicht von oben herab über sie bestimmt. Das ist aber keine Frage von Schwarz und Weiß, von besser oder schlechter.
Die UN-Organisation International Telecommunication Union signalisiert aber, politische Aspekte des Internets besser bearbeiten zu können.
Es gibt tatsächlich eine Menge Themen, mit denen Icann nichts zu tun hat. Pornografie zum Beispiel. Oder Steuern. Das muss woanders entschieden werden. Ich weiß nicht, wo – jedenfalls nicht bei Icann. Der Umgang mit Pornografie ist keine technische Frage. Ich glaube niemandem, der sagt, das könne man über das Domain Name System regeln.
Und doch scheint Icann in der Wahrnehmung der Netzöffentlichkeit zu wenig Legitimation für Themen wie Konflikte um Domainnamen zu haben.
Ja, ja, dann wird über die abgeschafften Wahlen für die Vertreter der Nutzer geschimpft. Tatsache ist aber doch, dass Legitimation nicht aus 34.000 Wählerstimmen weltweit entsteht. Allein in Deutschland gibt es knapp 40 Millionen Internetnutzer – und 11.000 Nutzer haben in ganz Europa abgestimmt. Ist das Legitimation? Nein. Ich sage nicht, dass Wahlen ausgeschlossen sind. Derzeit sind sie nur nicht im notwendigen – globalen – Ausmaß machbar.
Eine praktikable Alternative?
Ist zum Beispiel das Nominierungskomitee mit Vertretern von Regierungen, Unternehmen, nichtkommerziellen Organisationen. Sie wählen den Vorstand. Icann bezieht Organisationen als Vertreter ein. Ich sage nicht, dass Wahlen auf lange Sicht ausgeschlossen sind. Ganz und gar nicht. Nur ist Icann heute nicht der richtige Ort für unsichere Experimente. Wir haben echte, technische Arbeit zu erledigen. Wir können kein Experimentierfeld sein. Onlinewahlen dürfen kein Selbstzweck sein. Im Reformprozess entsteht Legitimation unter anderem dadurch, dass die Öffentlichkeit ihn über Diskussionsforen und eine entsprechende E-Mail-Adresse kommentieren, beeinflussen und kritisch begleiten kann.
Und doch entscheidet über Erfolg oder Misserfolg dieses Prozesses das US-Wirtschaftsministerium. Muss eine global handelnde Organisation nicht gegenüber einer anderen Institution verantwortlich sein?
In Zukunft wird es da vielleicht eine andere Lösung geben. Icann wurde als ein offenes Forum geschaffen, weil sich die Bedeutung des Internets geändert hat, weil mehr internationaler Einfluss notwendig war. Deshalb die Idee hinter Icann: eine private Lösung zu schaffen. Das Internet gleicht nicht dem Telefonnetz, es ist ein globales, verteiltes System. Deshalb braucht es ein offenes, globales Forum wie Icann. Den Kritikern sage ich: Dieser Prozess braucht Zeit! Die Prinzipien, an denen er sich orientiert, sind in dem Vertrag zwischen uns und dem Wirtschaftsministerium festgelegt. Das Ministerium überwacht, dass wir sie erfüllen – und es hört dabei sehr genau auf die Kommentare von Menschen und Organisationen aus der ganzen Welt.
Waren Sie bei diesen Fragen nicht wenig erfolgreich?
Hier geht es nicht um Stuart Lynn. Und schon gar nicht werde ich meinen Erfolg selbst öffentlich beurteilen. Hier geht es um einen Prozess. Diesen Prozess wollte ich voranbringen. Ich bin vor zwei Jahren nicht mit einer Agenda mit x Punkten angetreten, die man jetzt abhaken könnte. Ich denke, der Reformprozess ist vorangekommen. Mein Nachfolger wird vor vielen der Fragen stehen, die ich damals angehen musste. Es werden wohl ein paar weniger sein.
Die dringlichste davon ist?
Die Frage, ob neue Top-Level Domains nötig sind.
Welchen Schaden könnten neue überhaupt anrichten?
Die Argumente der Gegner sind: Erstens müssen die Registratoren finanziell überlebensfähig sein. Die Nachfrage nach den paar neuen Top-Level Domains ist weit niedriger, als es vor einigen Jahren prognostiziert wurde. Zweitens: verschärfte Konflikte um Markennamen. Drittens: Verwirrung bei den Nutzern.
Sie sind also dagegen?
Nein. Wir sind nicht für oder gegen etwas, wir hören derzeit zu. Man sollte etwas mit gutem Grund tun. Dinge sollten nicht entschieden werden, weil Stuart Lynns Amtszeit endet, sondern weil es so weit ist. Icann ist ein Prozess. Als ich begann, war er weit vorangekommen, jetzt ist er etwas weiter, und nach meiner Zeit wird er noch viel weiterkommen.
Und was machen Sie dann ab März?
Nicht mehr an sieben Tagen in der Woche arbeiten.
Sondern?
Großvater sein, fotografieren, malen und Klavier spielen. Eben schöne Dinge tun.