: Tot seit dem Tag der Entführung
Wenn die Wirklichkeit die hohe Moral einholt: Im Fall Jakob von Metzler gerät in Erklärungsnot, wer sich an Prinzipien klammert
von MONIKA GOETSCH
Frankfurt, im Herbst: Da hockt er nun auf der Polizeiwache, lügt, windet sich, schweigt. Die Polizisten fragen, die Zeit drängt. Denn irgendwo da draußen, in einem Erdloch im Wald, in einer Wohnung, in einem Auto ist der elfjährige Jakob von Metzler. Und während Magnus G., 27 Jahre alt, Jurastudent, im Besitz von einer Million Euro Lösegeld und dringend verdächtig, den Jungen vier Tage zuvor im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen entführt zu haben, die Polizei zappeln lässt, bekommt der Kleine vielleicht gerade noch ein bisschen Luft. Vielleicht auch Wasser und Nahrung. Vielleicht aber auch nicht. Ob er noch lebt? Zu retten ist?
Keinen Hinweis gibt Magnus G. darauf, wo das Kind sein könnte. Lange hat ihn die Polizei beobachtet in der Hoffnung, so zum Versteck des Kindes geführt zu werden, ohne Erfolg. Vom Ergebnis der Vernehmung scheint alles abzuhängen. Und alles, das ist hier: das Leben eines fröhlichen Elfjährigen, der eines Freitagnachmittags ins Wochenende spazieren wollte wie alle anderen Schulkinder auch – und nie zu Hause ankam.
„Füge G. Schmerzen zu“
Wenn es um alles geht, ist dann jedes Mittel recht? „Füge Magnus G. Schmerzen zu und versuche, den Aufenthaltsort herauszufinden“, soll der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem vernehmendem Polizisten angeraten haben, bereit, Folter nicht nur anzudrohen, sondern auch auszuüben. Folter in einem Rechtsstaat. Eine Folterandrohung, ordentlich dokumentiert in einer Akte, die der Staatsanwaltschaft weitergereicht wurde und an die Öffentlichkeit gelangt ist.
„Schmerzen, die er nie vergessen werde“, sollen Magnus G. angekündigt worden sein; von einem Wahrheitsserum, das die Polizei ihm verabreichen wollte, ist die Rede. Es blieb bei Worten, die Androhung allein schüchterte ein, das Unternehmen fruchtete, und Magnus G. führte die Polizei an jenem 1. Oktober zu einem See, wo Jakob, ein zusammengeschnürtes Bündel, gefunden wurde. Tot seit dem Tag der Entführung, wie sich herausstellte, tot also lange vor der Lösegeldübergabe, lange vor der skandalträchtigen Androhung von Folter, über deren Bewertung nicht nur Rechtswissenschaftler, sondern auch Herz und Gewissen nun kräftig streiten dürfen. Einmal mehr stehen moralische Prinzipien auf dem Prüfstand, die an sich unangefochten Geltung haben sollten und auch haben: so lange jedenfalls, bis die Wirklichkeit die hohe Moral einholt und nach pragmatischen Entscheidungen verlangt.
Sicher: Jakob von Metzler und seiner Familie war durch die Entscheidung des Poliziepräsidenten nicht mehr zu helfen. Magnus G. hat inzwischen geredet: wie der Plan in ihm reifte, die Bankiersfamilie zu erpressen; wie er die Entführung vorbereitete; wie er Jakob an der Bushaltestelle abfing; wie er mit dem Kind zunächst „Entführung gespielt“ und daraus schließlich ernst gemacht und Jakob erstickt hat.
Ist jedes Mittel recht?
Im März soll dem Täter, dem Psychiater Geldgier als Tatmotiv unterstellen, der Prozess gemacht werden. Von den Folterdrohungen im Verlauf der Vernehmung wird der Prozess gegen den in U-Haft sitzenden mutmaßlichen Täter unberührt bleiben. Sie sind Teil eines anderen Ermittlungsverfahrens. Unzulässig, ja fast ungehörig mutet die Frage an, die sich jetzt die Öffentlichkeit stellen darf: Ist Folter oder die Androhung von Folter in ausgewählten Fällen erlaubtes Mittel zum Zweck? Gern werden Fragen wie diese von Moralisten in Bausch und Bogen verworfen. Andererseits gerät, wer sich an Prinzipien zu klammern pflegt, im Fall Jakob von Metzler leicht in die Zwickmühle: Wer würde nicht alles unternehmen wollen, um das Leben eines Menschen, eines Kindes, zu retten?
Die Androhung eines Schmerzes, sonst ein erheblicher Verstoß gegen die Menschenwürde, mag da durchaus als das kleinere Übel erscheinen, und der Tabubruch durch die Polizei, die zugleich alles unternommen hat, die Transparenz ihres Handelns zu sichern, vielleicht sogar als beherzter, einzig richtiger Schritt – in einem gut begründeten, menschlich und moralisch nachvollziehbaren Ausnahmefall. Rechtlich gesehen erlaubt nur ein „Notstand“ einen gewissen Spielraum bei Vernehmungen. Ob dies im Fall Magnus G. gegeben war, wird zu klären sein. Dass dem Missbrauch von Recht und Gesetz, dem Missbrauch der Folter als Mittel zum Zweck dadurch Tür und Tor geöffnet wird, muss eine gründliche Argumentation allerdings unbedingt verhindern.