piwik no script img

Archiv-Artikel

Einer, der dazuverdient

Kinderarbeit völlig verbieten zu wollen gehtan der Realität indischer Verhältnisse vorbei

aus Tiruppur und BerlinANETT KELLER

Kumaresam schaut trotzig. „Warum ich Schneider werden will? Ich will halt machen, was ich kenne“, sagt der 14-Jährige. Nähte falten, sie unter der ratternden Maschine durchschieben, T-Shirts stapeln und in große Kisten packen, die später ihren Weg in alle Ecken Indiens, nach Europa und Amerika antreten – den kompletten Fertigungsbetrieb unter den Neonröhren der Textilfabrik kennt Kumaresam. Seit zwei Jahren arbeitet er in einer der so genannten Units im südindischen Tiruppur, oft mehr als zwölf Stunden am Tag.

In der im Bundesstaat Tamil Nadu gelegenen 350.000-Einwohner-Stadt lässt sich schon an der Färbung der Flüsse ablesen, ob die kommende Modesaison den Europäern grün, blau oder rot daherkommt. Mehr als die Hälfte der von Indien nach Europa exportierten Bekleidung kommt aus Tiruppur. Die „Dollar-City“ verzeichnete in den letzten zwanzig Jahren ein rasantes Wachstum vom kleinen Produktionsstandort für den lokalen Bekleidungsmarkt zum Lieblingskind der westlichen Kaufhausketten.

Tiruppurs Produktion ist bis in die kleinsten Schritte in Units, in kleine Produktionseinheiten zerlegt. So spezialisiert sich ein Unternehmer aufs Weben, der nächste aufs Färben, ein anderer ist bekannt für seine guten Stickereien, genäht wird wieder woanders. Das garantiert kleine, schnelle Fertigungsmodule, die zu niedrigen Kosten produzieren. Und ist gleichzeitig verantwortlich für Ketten von Unternehmern und Subunternehmern, die kaum noch zu überprüfen sind – etwa, wenn es um soziale Standards geht. Im „indischen Manchester“ arbeiten derzeit zwanzig- bis dreißigtausend Kinderarbeiter. Die meisten von ihnen sind Drop-outs, sie tauchen irgendwann einfach nicht mehr in der Schule auf.

Wie Kumaresam, der nach drei Schuljahren den Stift gegen einen Lappen tauschte und fortan Autos putzte. Später wechselte er von der Werkstatt in verschiedene Haushalte, das Putzen blieb seine Erwerbsquelle. Vor zwei Jahren „verbesserte“ er sich und bekam einen der begehrten Jobs in der Textilbranche. Der Tagesverdienst eines Kinderarbeiters: 25 Rupien, das sind rund 50 Cent. Geht die Schicht länger als zwölf Stunden, gibt es auch mal 40 Rupien. Ob seine Eltern nichts dagegen unternommen hätten, dass er einfach der Schule fernblieb? Kumaresam rutscht unruhig hin und her. Klein und schmal gewachsen, mit großen ängstlichen Augen, sieht er viel jünger aus, als er ist. Zu zappelig sei er gewesen, erzählt er, das habe der Lehrer ihm mit Schlägen austreiben wollen. Irgendwann habe er nicht mehr in die Schule gewollt. „Auch gut“, sagten die Eltern, „einer, der mitverdient für die sechs jüngeren Geschwister.“ Sie schickten ihn arbeiten.

„Für Kinder wie ihn führt kein Weg zurück in die Schule“, sagt Baskaram vom Center for Social Education and Development (CSED). Die Organisation veranstaltet seit 1997 Abendkurse für Kinderarbeiter in Tiruppur, inzwischen wird sie unterstützt von terre des hommes. In fünfzig Zentren werden 1.200 Kinder unterrichtet, von Lehrern wie Baskaram, die hier „Child Rights Promoter“ heißen. Auch Sport, Spielstunden und Ausflüge stehen auf dem Programm. „Wir geben ihnen ein Stück verlorene Kindheit zurück“, sagt CSED-Leiter Nambi. Die Kinder – fast alle aus der niedrigsten Kaste der Unberührbaren, heute Dalit genannt – kommen nach acht, zehn oder zwölf Stunden Arbeit. Auch wenn Nambis erklärtes Ziel, sie alle wieder in reguläre Schulen zu reintegrieren, unrealistisch anmutet, zieht das Projekt zumindest Kreise, erzielt Aufmerksamkeit. Inzwischen erzählen ihm die Besucher der Abendschulen, wenn sie irgendwo von neu angeheuerten Kinderarbeitern hören. Etwa zweitausend Minderjährige treten in Tiruppur jährlich „ins Berufsleben“ ein.

Einmal im Jahr ist Modemesse in Tiruppur. Dann fliegen die Einkäufer in Scharen ein – von NafNaf, H&M, Quelle und C&A bis Woolworth. Dann werden Stoffe und Schnitte begutachtet, Preise verhandelt und schließlich Aufträge vergeben. Die meisten der Kaufhäuser, in denen europäische Verbraucher derzeit ihr neues Frühjahrsoutfit erstehen, unterhalten keine eigenen Fabriken. Subunternehmer nähen und lassen nähen. Zehn Glieder oder mehr zählt oft die Produktionskette.

„Ein Dschungel“, sagt Elisabeth Hall Khokar, Chefin des Regionalbüros von H&M. Die Schwedin lebt seit 15 Jahren in Indien. Seitdem habe sich schon viel verändert. „Kinderarbeit war früher nie ein Thema, jetzt gibt es Medienberichte und viele Kinderrechtsaktivisten“, sagt Khokar.

Auch wenn das Kaufverhalten der meisten europäischen Verbraucher nach wie vor stärker von roten Prozentschildern als von Sozialreportagen gesteuert wird – die Aufmerksamkeit wächst. Dem Druck von Kampagnen wie der Clean Clothes Campain (CCC) beugen sich vor allem die Multis der Branche. Für sie sind Bilder von Kinderarbeitern an Nähmaschinen vor allem ein Imageproblem.

Seit 1998 verpflichtet H&M seine Zulieferer auf einen „Code of Conduct“. Darin steht, dass Mindestlöhne gezahlt werden müssen, dass Angestellte Gewerkschaftsfreiheit haben, dass die Fabriken brandsicher und die Toiletten hygienisch sein sollen und – dass keine Kinderarbeit geduldet wird. H&M-Inspektorin Domenica Goldbach überwacht im südlichen Indien seit eineinhalb Jahren diese Standards. Sie habe in dieser Zeit keinen Fall von Kinderarbeit festgestellt, sagt die Deutsche.

Kinderarbeit sei nicht mehr das Problem bei den Zulieferern der internationalen Großkonzerne, so der Tenor der Branchenvertreter auch in Deutschland. Die Außenhandelsvereinigung des deutschen Einzelhandels (AVE) ließ in Pilotprojekten die Zulieferer ihrer Mitglieder überwachen – auch im indischen Tiruppur. „Schlechte Ergebnisse, was Arbeitssicherheit und Entlohnung angeht“, wurden laut AVE-Geschäftsführer Stefan Wengler festgestellt – aber keine Kinderarbeit. Seit 1999 hat die AVE eine freiwillige Selbstverpflichtung, die sich an den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) orientiert. Zwangsarbeit ist danach ebenso wie Kinderarbeit verboten.

Für die Multis der Branche sind Bilder von Kinderarbeitern vor allem ein Imageproblem

Die Überwachung der Standards nehmen die deutschen Unternehmen – ebenso wie H&M aus Schweden – immer noch selbst vor. Kritiker dieser Praxis fordern seit Jahren ein unabhängiges Monitoring der Sozialstandards. Durch einen Rahmenvertrag der AVE mit dem TÜV und ausländischen Inspektionsunternehmen soll das nun wirklich kommen. „Wir gehen davon aus, dass erste Monitoring-Gänge im April stattfinden“, sagt AVE-Geschäftsführer Stefan Wengler. Optimismus ist beim Branchenvertreter noch nicht angesagt: „Bevor das Projekt richtig auf die Schiene gesetzt ist, sollte man zurückhaltend sein.“

„Das Projekt“ kostet in der Startphase rund neun Millionen Euro und wird zu einem Viertel von der bundeseigenen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) finanziert. Ohne diese „Entwicklungshilfe“ wären die Bekleidungsriesen wohl noch schwerer zu überzeugen gewesen, Kontrollen zuzulassen, die ihnen Kostenvorteile nehmen könnten. Die öffentliche Diskussion über Kinderarbeit scheinen manche Branchenvertreter ohnehin leid zu sein: „Vor allem in der sommerlichen Sauregurkenzeit berichten die Medien immer wieder gern über Kinder- und Zwangsarbeit bei Lieferanten aus Drittweltländern.“ So drückt der Bundesverband des Textileinzelhandels auf seiner Homepage sein Bedauern darüber aus, dass „die Textilbranche dann regelmäßig am Pranger“ steht.

Pauschalverurteilungen nutzen so wenig wie Boykottaufrufe. Setzt man entdeckte Kinderarbeiter einfach auf die Straße, ist man das Problem in der eigenen Fabrik zwar los – die Kinder tauchen jedoch ab in Industriezweige, die noch weniger kontrolliert werden. Mit dem Argument, dass westliche Unternehmen für die so genannte Dritte Welt ein Segen sind, weil ihre Zulieferer wenigstens Mindestlöhne zahlen und Sozialstandards kontrolliert werden, wird eine Realität vorgetäuscht, die in Indiens Nähstuben nicht immer anzutreffen ist. Einerseits ist nicht jeder deutsche Einzelhändler Verbandsmitglied. Viele Mittelständler kaufen nicht direkt, sondern über Einkaufsverbände ein – die sich bislang keine Selbstverpflichtung gegeben haben. Andererseits, so AVE-Geschäftsführer Wengler, werde es zunächst nur möglich sein, die Zulieferer zu auditieren, mit denen man ständig zusammenarbeitet. Jedes Glied der langen Subunternehmerkette im Blick zu haben, bleibt Utopie.

So verwundert es nicht, dass hierzulande Unternehmen sagen: „Bei unseren Zulieferern gibt es keine Kinderarbeit“, die Kinder in den Abendschulen des CSED in Tiruppur aber erzählen, dass sie für den Export produzieren.

Kinderarbeit völlig verbieten zu wollen geht an der Realität indischer Verhältnisse vorbei, das weiß auch CSED-Leiter Nambi. Trotzdem versucht seine Organisation unermüdlich, vor allem Einfluss auf die Eltern der Kinder zu nehmen. „Wir sind gezwungen, die Kinder zur Arbeit zu schicken, unser Verdienst reicht nicht zum Leben“, das hört Nambi täglich. Er sagt dann: „Ihr seid so arm, weil es so viel Kinderarbeit gibt.“ Und verblüfft so manchen Familienvater mit der Rechnung, dass er am Tag mehr Geld für Zigaretten ausgibt als sein Kind an Lohn nach Hause bringt. Gewohnheiten und Traditionen schadeten den Kindern oft. „Sie geben so viel Geld für Tempelopfer aus“, sagt Nambi, „und begreifen nicht, dass ihre Kinder doch der größte Segen Gottes sind.“