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Archiv-Artikel

„Meine Arbeit verlangt Härte“

„Härte ist mein Panzer. Wenn ich mich nicht selbst schütze, kann ich auch für andere nichts tun“

Interview BARBARA OERTEL

taz: Frau Jusupowa, Russlands Präsident Wladimir Putin ist fest entschlossen, in Tschetschenien im kommenden Monat ein Verfassungsreferendum und Präsidentenwahlen abhalten zu lassen. Auch die Regierungschefs von einigen westlichen Staaten sehen darin jetzt eine Chance für Tschetschenien und sprechen sogar von politischen Fortschritten. Was halten Sie davon?

Lidiya Jusupowa: Niemand, der in Tschetschenien lebt, sieht einen politischen Fortschritt. Den würde es nur dann geben, wenn sich die russische Regierung an den Verhandlungstisch setzen und versuchen würde, das Problem auf politischem Weg zu lösen. Niemand hat bisher das Verfassungsprojekt gesehen, geschweige denn darüber diskutiert. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere betrifft die Lage der Flüchtlinge, vor allem in Inguschetien. Die ist grauenhaft, und von einem politischen Fortschritt kann keine Rede sein. Unter den gegebenen Umständen kann ein Referendum nur vor Gewehrläufen durchgeführt werden, um dann noch zu behaupten, das Volk habe selbst seine Wahl getroffen. So sieht er aus, der politische Fortschritt.

Tagtäglich wird die Bevölkerung bei willkürlichen, so genannten Säuberungen Opfer von Plünderungen, Folter und Mord. Manche sprechen gar von einem Genozid. Ist ein friedliches Zusammenleben von Russen und Tschetschenen in absehbarer Zeit überhaupt noch möglich?

Ich halte das für ausgeschlossen. Schon Kinder sprechen das Wort „russisch“ mit Angst und Hass aus. In einem Bus sah ich, wie ein dreijähriges Mädchen den Vorhang zuzog, als wir uns einem Kontrollposten näherten. Auf Nachfrage der Mutter sagte sie: „Der russische Soldat soll dich nicht sehen. Hast du denn vergessen, wie sie Vater aus dem Haus geholt haben, du hinter ihm hergelaufen bist und einen Soldaten mit einem Stock geschlagen hast? Er kam zurück, mit einem Gewehr. Vielleicht hast du es vergessen, aber er nicht.“

Was ist mit den Heranwachsenden in Tschetschenien, einer Generation, die nichts anderes als Krieg kennt? Wie würden Sie diese Jugendlichen beschreiben?

Zum Beispiel zwei Jungen in Wedeno. Die Soldaten hielten sie stundenlang in einem Erdloch fest, warfen Schlangen hinein, pinkelten ihnen auf den Kopf und lachten dabei. Können Sie sich den psychologischen Zustand dieser 16- bis 17-Jährigen vorstellen? Neulich hatte ich einen jungen Mandanten. „Warum hast du alles unterschrieben“, habe ich ihn gefragt? Er sagte: „Hast du nicht gesehen, was sie mit den beiden Frauen gemacht haben, die hier hergebracht wurden? Sie haben Hunde auf sie gehetzt und sie anschließend vergewaltigt. Mir haben sie die Hände gefesselt, die Hose heruntergezogen, und einer von ihnen sagte: Jetzt wollen wir dich mal rannehmen. Da habe ich alles unterschrieben.“ Ich verschweige nicht, dass es auch Tschetschenen gibt, die Verbrechen begehen. Aber dafür gibt es Vorschriften des Strafrechts, doch die wendet hier niemand an.

Sie verteidigen sowohl Beschuldigte als auch die Angehörigen jener, die sich um die Aufklärung des Schicksals ihrer Familienmitglieder bemühen. Was ist für Sie das Schwierigste bei Ihrer Arbeit?

Das Schwierigste ist, wenn du versuchst, nach den Buchstaben des Gesetzes zu argumentieren. Zu sagen: Hier ist das Gesetz, ihr seid verpflichtet, euch daran zu halten, genauso wie ich es bin. Wenn ich, als Anwältin, auf der Einhaltung von Gesetzen bestehe, wird darin eine Kriegserklärung an das System gesehen. Die Leute, die das Gesetz durchsetzen sollen, treten es selbst in den Dreck. Man kann einen Menschen entführen, ihn schlagen oder sogar umbringen und dann nach zehn Tagen feststellen, dass er eigentlich das Recht auf einen Anwalt hätte. Wenn der Anwalt dann kommt, wird ihm gesagt: Heute ist ein arbeitsfreier Tag, es ist gerade Mittagspause, wir können Sie nicht vorlassen.

Sie haben sich bis jetzt mit unzähligen solcher Fälle beschäftigt. Wie halten Sie das jeden Tag aus?

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme. Dabei gab es schon so viele schreckliche Situationen. Einmal war ich auf dem Rückweg von Nasran [Hauptstadt von Inguschetien; d. Red.]. Nicht weit von der Hauptstraße lag die zerfetzte Leiche eines jungen Mannes. Da lagen die Beine, daneben seine Trainingshose, die Eingeweide und ein Stück des Kopfes. Die Leute sagten, es habe erst Schießereien und danach mehrere Explosionen gegeben. Ich sagte mir nur: Wie grausam muss man sein, um so weit zu gehen? Das Herz des jungen Mannes war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Ich stand dort, betrachtete dieses Herz und hatte den Wunsch, es an mich zu nehmen. Es war noch warm … Früher hätte ich nie gedacht, dass ich so etwas ertragen könnte.

Haben Sie jemals daran gedacht, mit Ihrer Arbeit als Anwältin aufzuhören?

„Manchmal habe ich Momente, da denke ich, wenn mir Gott doch nur den Tod schicken würde“

Ja, manchmal kommt mir dieser Gedanke. Aber wenn dann wieder Frauen kommen und von „Säuberungen“, Vergewaltigungen und Plünderungen berichten, sage ich ihnen: „Erst wenn wir zusammenstehen und der Führung Tschetscheniens, Russland und der ganzen Welt sagen, dass wir hier sind und leiden, können wir uns schützen. Geht und lasst die Macht wissen, dass wir nicht weichen werden. Was fürchtet ihr? Wen? Was macht es für einen Unterschied, wie ihr sterbt. In der Einsamkeit, wenn sich die Schlinge zuzieht, oder gemeinsam, wenn sie euch auf dem Platz dort fertigmachen?“ Ja, manchmal habe ich Momente, da denke ich, wenn mir Gott doch nur den Tod schicken würde, damit ich mich nicht mehr quälen muss. Damit hätte ich kein Problem, doch das wäre auch kein Ausweg. Wenn ich dagegen alles stehen und liegen ließe – könnte ich dann leben? Nein, ich könnte es nicht.

Wie kam es dazu, dass Sie sich ausgerechnet für diesen Beruf entschieden haben?

Schon seit ich zehn Jahre alt war, wollte ich lernen. Später kam der Wunsch dazu, mich selbst zu verwirklichen, eine bestimmte Höhe zu erreichen. Als Kind liebte ich den Himmel, beobachtete immer die Vögel und dachte: Warum kann ich nicht fliegen? Als später in Grosny ein Fallschirmspringerclub aufmachte, wurde ich Mitglied. Beruflich war es lange mein Traum, Ärztin zu werden. Doch ich schaffte die Aufnahmeprüfung für die medizinische Fakultät nicht. Dafür arbeitete ich als Sekretärin im Gericht. Ein Fernstudium der Medizin enttäuschte mich sehr. Und so beschloss ich, dass ich, wenn ich die Menschen schon nicht physisch heilen könne, es dann wenigstens moralisch und seelisch zu tun. Ich wurde Juristin. Und ein wenig von dem anfänglichen Enthusiasmus habe ich auch heute noch.

Sie sind nicht verheiratet und haben keine eigene Familie. Das ist für Frauen in Tschetschenien eher die Ausnahme. Warum haben Sie sich so entschieden? Hat das auch mit Ihrem beruflichen Engagement zu tun?

Meine Selbstständigkeit war mir immer sehr wichtig. Und es ist heute in tschetschenischen Familien immer noch schwierig, Frau und Schwiegertochter zu sein und dabei gleichzeitig zu studieren und sich zu emanzipieren. Wahrscheinlich habe ich in einer bestimmten Phase meines Lebens einfach niemanden gefunden, in den ich mich hätte verlieben können und mit dem ich Lust gehabt hätte, eine Familie zu gründen. Als ich gerade mein Studium beendet hatte, kam die Frage nach der Eröffnung eines Büros von Memorial [russische Menschenrechtsorganisation; d. Red.] auf. Da habe ich mich entschieden: Das ist meins. Ich glaube, dass ich mich dadurch endlich selbst gefunden habe. Meine Arbeit verlangt Härte, und die habe ich. Sie ist mein Panzer, mit dem ich mich selbst umgeben habe. Innendrin bin ich eher ein schwacher Mensch. Aber ich weiß ganz genau: Wenn ich mich selber nicht schütze, kann ich auch für andere nichts tun.