: Mein neues Fahrrad
Der Suhrkamp Verlag hat die überarbeitete Übersetzung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ abgeschlossen. Eher noch als einen „unbekannten und unerhörten“ Marcel Proust entdeckt man zwischen den Zeilen Spuren der eigenen Geschichte
von DETLEF KUHLBRODT
Es ist schön, einen Band der neuen Frankfurter Ausgabe der Werke Marcel Prousts in Händen zu halten, mit den Fingern über den glatten Schutzumschlag zu streichen, ein wenig in „Swanns Welt“ zu blättern, die nun „Unterwegs zu Swann“ („Du coté de chez Swann“) heißt; den Schutzumschlag abzumachen, sich das Buch anzuschauen, Tee und Aschenbecher ans Sofa zu stellen, eine angenehme Sitzposition zu suchen und dann noch einmal damit zu beginnen, den sicher größten und vielleicht auch umfangreichsten Roman des 20. Jahrhunderts zu lesen.
Man fühlt sich wie am Anfang einer großen Reise, die man schon mehrmals gemacht hat. Man kennt die Gegend im Großen und Ganzen, die Sehenswürdigkeiten, die großen Szenen des Romans sind einem vertraut, und man ist gespannt und etwas unsicher zugleich. Es könnte ja auch sein, dass die „Recherche“ einen beim Wiederlesen enttäuscht, weil das Ich, das sie damals so begeistert gelesen hatte, ja längst nicht mehr existiert. Und schon ist man wieder drinnen, denn dass es keine Ich-Substanz sozusagen gibt, sondern dass das Ich eigentlich aus einer Folge unterschiedlicher Ichs besteht, die einander zuweilen kaum noch kennen mögen wollen, ist ja eines der Hauptthemen der „Recherche“, die einen wieder und zugleich anders als früher in ihren Bann zieht.
Während man früher etwa romantisch gesinnt vor allem den Fort- und Niedergang der diversen Liebesgeschichten verfolgte, mit Swann, dem Ich-Erzähler oder Charlus litt und die ausufernden Gesellschaftsszenen einen manchmal langweilten, als wäre man selbst zugegen gewesen, findet man gerade die nun brillant: diese 40 oder hundertseitigen Beschreibungen eines Abends in diesen oder jenen wichtigen Kreisen, die Aus- und Einschlussmechanismen des Adels oder der Salons des kunstbeflissenen Großbürgertums, die Außen- und Innenpolitik der Salons und ihrer Besucher, die Instrumentalisierung der jeweiligen In-Kunst fürs Prestige – und vor allem natürlich die Schilderungen der Gegen- und Geheimgesellschaften; die verfemten „Rassen“ („race“ ist im Französischen nicht gleichermaßen rassistisch konnotiert wie im Deutschen) des assimilierten Judentums und der Homosexuellen, die die französische High Society immer wieder konterkarieren und unterlaufen.
Diese ganzen zuweilen leicht satirischen, aber vor allem äußerst präzisen, eigentlich materialistischen Gesellschaftsszenen scheinen nicht nur eine vergangene Zeit zu beschreiben, sondern eben auch Ein- und Ausschlussmechanismen zeitgenössischer kultureller Milieus. Beim Lesen fallen einem Analogien ein. Man meint die Kunstenthusiastin X in Madame Verdurin wiederzuerkennen, dem Literaturfreund Y im großartigen Charlus wiederzubegegnen und möchte das Buch gern vor allem Journalisten ans Herz legen.
Im Prinzip geht es einem beim Wiederlesen der „Recherche“ so ähnlich wie beim Musikhören, wenn man einmal davon absieht, dass eine CD 70 Minuten lang ist, während es mindestens zwei Monate braucht, die 4.500 Seiten der „Recherche“ zu lesen. Mit jedem Mal entdeckt man jedenfalls neue Dinge, Strukturen, Feinheiten. Was anfangs noch im Vordergrund zu stehen schien, tritt nun ein wenig zurück und gibt den Blick frei auf andere, zunächst unauffälligere Geschichten; was anfangs eindeutig schien – die Ablehnung des gesellschaftlichen „Geredes“ (Heidegger), die Propagierung eines Tiefen-Ichs („moi profond“), das nur in der Abgeschiedenheit zur Wahrheit und zu sich selbst am Ende seiner Suche finden kann – ist plötzlich ambivalent.
Das emphatische Glück scheint plötzlich nicht mehr so sehr im abgeschiedenen erinnernden Ich der „wiedergefundenen Zeit“ zu liegen, dass die Glücksmomente unwillkürlicher Erinnerungs-Chocs im authentischen Kunstwerk verarbeitet, sondern etwa in den lesbischen Schwestern und Kusinen des jüdischen Parvenüs Blochs, die mutterlos und „völlig losgelöst von gesellschaftlichen Normen und Konventionen, völlig frei von einem familiengebundenen Zusammenhang aus Schuld und Scham glucksend, kreischend, lachend, schamlos als Horde durch die Gegend ziehen“, wie es in der schönen Doktorarbeit von Annette Weber (www.diss.fu-berlin.de/2002/162) heißt. Wie schön muss es sein, Proust-Forscher zu sein!
Marcel Proust hat von 1905 bis zu seinem Tod am 18. November 1922 an seinem Werk gearbeitet, ohne es ganz zu vollenden: „Sodom und Gomorrha“ sollte bekanntlich statt zwei vier Bände umfassen. Die neue Proust-Ausgabe des Suhrkamp Verlags ist nun keine Neuübersetzung wie etwa die von Michael Kleeberg, dem vorgeworfen wird, sein Proust klinge wie Thomas Mann. Sie ist eine Überarbeitung der bislang sakrosankten Übersetzung von Eva Rechel-Mertens aus den 50er-Jahren, revidiert von dem Zürcher Romanisten Luzius Keller, wie es bescheiden – immerhin hatte das Unternehmen zehn Jahre in Anspruch genommen – heißt. Überall wird auch immer gern vermerkt, dass die „Wiedergefundene Zeit“, der letzte Band des Romanwerks, das in Frankreich zwischen 1919 und 1927 zum ersten Mal erschienen war, pünktlich zum 80sten Todestag des Autors und wenige Wochen vor dem Tode Siegfried Unselds fertig geworden ist.
In Deutschland erschien der erste, von Rudolf Schottlaender übersetzte Band der Recherche 1926. Nach einer vernichtenden Kritik des Romanisten Ernst Robert Curtius – die Übersetzung sei „ungefähr so, wie wenn Debussy für die Mundharmonika arrangiert werden würde“ – übernahmen Walter Benjamin und Franz Hessel die folgenden Bände, „doch brachte der Nationalsozialismus das Projekt nach dem dritten Band zu Fall“, wie es im Anhang der neuen Ausgabe heißt. 1987 erschienen „Guermantes“ und „Im Schatten junger Mädchenblüte“ noch einmal als Supplemente im Rahmen der Walter-Benjamin-Gesamtausgabe. Die beiden Bände zielten eher auf Literaturwissenschaftler und Benjamin-Enthusiasten. Erstmals vollständig wurde die „Recherche“ von Eva Rechel-Mertens übersetzt und zwischen 1953 und 1957 veröffentlicht.
Abgesehen von der weißen Benjamin- und der Leder-Luxus-Ausgabe der neuen Übersetzung, gibt es „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ bei Suhrkamp nun also in sechs verschiedenen Aufmachungen: blau, grau, schwarz und in zwei unterschiedlichen Violetttönen. Neutral und blau mit Foto war die Taschenbuchausgabe, deren Bände man auch einzeln kaufen konnte. Das Papier war leider etwas zu dick und nach der ersten Lektüre sahen die Bände oft etwas mitgenommen aus. Beliebt als Geschenk war die so leicht violett marmorierte Ausgabe im Geschenkkarton, die ähnlich wie die Rilke- oder die Hesse-Jubiläumsausgabe in den 70er-Jahren erschienen war und später durch eine etwas albern aufgemachte Ausgabe mit impressionistischen Gemäldeausschnitten auf schwarzem Grund verdrängt wurde. Am besten war eigentlich die Taschenbuch-Werkausgabe im neutralen Grau und Leinen; ein Arbeitsformat, in dem auch die Hegel- und Brecht-Gesamtausgaben erschienen waren, und außerdem gibt es ja noch die dreibändige Ausgabe in Dünndruck und Seidenleinen. Die neue Ausgabe ist edel und zurückhaltend: prima dünnes Bibelpapier, schön anzufassen, mit einem gelb orangefarbenen Lesebändchen, einem so ausführlichen wie kompetenten Anmerkungsteil versehen und außerdem siebenbändig wie das französische Original.
Wie in der französischen Pléiade-Ausgabe gibt es im Anhang ein Resümée, das hilfreich ist, wenn man nach bestimmten Passagen sucht. Leider fehlt das Personenregister, und es stört auch etwas, dass Einband, Titel, Autorname in unterschiedlichen Rosa- bzw. Violetttönen gehalten sind. Das kommt einem so vor wie eine unzulässige Vorinterpretation – der Autor war bekanntlich schwul und schrieb sehr viel über Gefühle: „Also nehmen wir mal so ein dezent süßlich-schwules Poesiealbumsrosa- bzw. -violett.“ So denkt man sich, dass die sich das so dachten auf ihren Einbandbesprechungskonferenzen. Das vergeht dann auch wieder, und eigentlich ist man ja doch begeistert.
Luzius Keller und Sibylla Laemmel hätten die Übersetzung der Satzstruktur und der Metaphorik des Originals angenähert und dabei Facetten zum Vorschein gebracht, „die einen unbekannten und unerhörten Proust offenbaren“ würden, heißt es bei Suhrkamp. Das stimmt wahrscheinlich, obgleich man es als Amateurleser nur bemerkt, wenn man sich die Mühe macht, hin und her zu vergleichen. Und was man dabei bemerkt, ist nicht in erster Linie ein neuer Proust, sondern dass sich die neue Ausgabe angenehmer lesen lässt, dass sie eleganter klingt, dass man seltener Passagen noch einmal lesen muss, um die Metaphern zu verstehen, und dass es zumindest in „Unterwegs zu Swann“ keinen einzigen Druckfehler gibt.
Sicher gibt es auch Schwächen, etwa dass in der neuen Übersetzung von „Zwitterwesen“ die Rede ist, wo es ursprünglich um Mann-Frauen (hommes-femmes) gegangen war, was der Proust’schen Konzeption der Homoexualität widerspricht, wie Ina Hartwig einleuchtend in der Frankfurter Rundschau dargelegt hat. Im Großen und Ganzen jedoch macht die neue Proust-Ausgabe einen prima Eindruck. In ihr zu lesen ist, wie auf einem neuen Fahrrad zu fahren. Danach findet man das alte nicht mehr so gut, auch wenn man mit ihm ebenfalls an sein Ziel käme, und träumt von der Lederausgabe mit zwölf Zylindern und Scheibenbremsen.
Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Herausgegeben von Luzius Keller. Aus dem Französischen von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. 7 Bände in Kassette. 5.300 S., 298 Euro (Leinen), 698 Euro (Leder). Einzelbände zwischen 32,80 Euro und 51 Euro