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Archiv-Artikel

Moskaus Mickey Mouse lässt auf sich warten

„Zu Beginn des 3. Jahrtausends hat Moskau an dieser Stelle noch wie das alte Russland ausgesehen“

aus Moskau BARBARA KERNECK

Nahe der westlichen Moskauer Stadtgrenze, der Ringautobahn, erhebt sich am Ufer des Moskwa-Flusses eine Hochhaussiedlung. Die Mieter dort blicken von ihren Balkons aus tief den Abhang hinunter auf den Fluss. Jenseits der Moskwa wabert frühmorgens eine Nebelplatte. Wenn die Sonne kräftiger wird, bohrt sie einen Tunnel in den Dunst, gleich dem Schacht, durch den Alice ins Wunderland fiel. Auf seinem Grunde werden Holzhäuschen sichtbar, türkis und rostrot gestrichen, mit zierlichen Laubsägeornamenten an den Giebeln. Pferdchen ziehen Bauernkarren. Und dann sehnt sich so mancher hier Lebende nach etwas Vergangenem – nach dem alten Russland?

Das Dorf heißt Terechowo und ist in mehrfacher Hinsicht eine Insel. An drei Seiten wird es von der Moskwa umspült, die hier einen Mäander bildet. Terechowo liegt dem Stadtkern näher als die benachbarte Hochhaussiedlung. Seine Einwohner haben eine Moskauer Postadresse. Dies ist das größte Dorf unter den im Stadtgebiet erhaltenen bäuerlichen Enklaven. Wie die meisten von ihnen soll es nach dem Generalbebauungsplan innerhalb von zehn Jahren beseitigt werden. Der angeschwemmte Boden hier ist fruchtbar. Eine Sowchose versorgt die umliegenden Bezirke mit Gemüse. Babuschkas lindern ihr Rheuma im Sonnenschein vor den Häusern. Blasse Stadtkinder reiten auf den Ponys der Sowchose.

Allerdings scheinen die Leute in Terechowo den Hauptstadtwohlstand nicht zu teilen. Die Holzhäuser sind wurmzerfressen. Pappe auf den Dächern kündet von Löchern. Niemand renoviert hier, denn diesem Territorium ist seit langem ein besonderes Schicksal bestimmt. Auf diesen 360 Hektar innerhalb des Moskwa-Mäanders soll das erste russische Disneyland entstehen.

Nach seiner USA-Reise wurde schon Nikita Chruschtschow von dieser fixen Idee befallen. Zu Beginn der 60er-Jahre waren die Pläne für den Abriss des Dorfes dann reif. Den Bezirk Nischnije Mnewniki, in dem sich Terechowo befindet, sparte man deshalb bei der Tiefbauerschließung der Randbezirke aus. Die Bewohner holen ihr Wasser noch heute an Pumpen, die im Winter einfrieren. Bis sich die Handys durchsetzten, konnten die Pensionäre hier nicht einmal die Erste Hilfe anrufen.

Ein Dorfbewohner beschreibt die Situation in einem Brief an die Lokalzeitung: „Der Mensch will wissen, was er für morgen tun kann. Uns erklärt man schon seit 40 Jahren, dass unsere Häuser jeden Moment abgerissen werden. Die ganze Zeit über leben wir auf Koffern.“ Im Gegensatz zur spottbilligen Fernwärme in den Moskauer Wohnblocks, sind Holz und Kohlen für Öfen sehr teuer. Viele Hausfrauen kochen auch bei Winter-Tagestemperaturen von Minus 20 Grad auf der Terrasse oder in einem ungeheizten Schuppen, wo sie aus Sicherheitsgründen den von Patronen gespeisten Gasherd untergebracht haben. Als Badezimmer dient häufig ein Plastikverschlag im Garten.

Zwischen einer Brücke über den östlichen Schiffahrtskanal und einer Brücke über die Moskwa führt eine gut asphaltierte Straße mitten durch das Dorf. Über diese Abkürzung verlassen viele schwere Wagen, darunter schwarze Politikerlimousinen, mit hoher Geschwindigkeit das Zentrum in Richtung Ringautobahn. Sie durch Ampeln aufzuhalten, scheint nicht opportun. In den nebeligen Flussauen kommt es zu zahlreichen Unfällen. Deshalb nennen die Anwohner Terechowo auch „Tal des Todes“.

Der letzte Erlass einer Moskauer Stadtregierung, „Über den Baubeginn eines Kinderpark-Komplexes in Nischnije Mnewniki“, stammt aus dem Jahre 1992. Drei Jahre später bekam das Territorium, wiederum per Erlass, einen Eigentümer: die „Stiftung Kinder-Wunderpark“ unter Leitung des Malers und Bildhauers Surab Zereteli. Die Stiftung führt in ihrem Titel das Wort „nichtkommerziell“. Die zuständigen Beamten behaupten allerdings, einige kommerzielle Einrichtungen, die hier in den letzten Jahren aus dem Boden schossen, unterstünden ihr indirekt: Autoreparaturwerkstätten, eine Tankstelle, ein Hotel und Abholmärkte.

Surab Zereteli verströmt einen welken Charme. Als Vorsitzender der Moskauer „Akademie der Künste“ hat er das Modell seines Wunderparks in deren Hallen plaziert. Seine Ankunft dort wird von Assistenten kommentiert, wie der Countdown einer Rakete: Jetzt ist er noch 40 Meter entfernt, noch dreißig … Nach atemlosem Stopp beginnt der Meister mit seinem Kommentar. Der richtet sich erst mal gegen eine Journalistin einer Moskauer Tageszeitung, die gerade die Lage in Terechowo kritisiert hat. Zereteli kennt den Grund: „Sie ist gegen die Kinder, gegen eine ganze Generation.“ Und weiter führt er aus: „Alle Länder denken nach, um einer Generation eine Freude zu bereiten. Damit die Kinder lachen können. Ich will, dass unsere Kinder glücklich sind, und ihnen die Möglichkeit geben – frei –, nicht nur zu spielen, sondern auch noch Bildung zu erhalten. Was ist Bildung? Eben die Konzeption, die ich dem hier zugrunde lege.“ Den Eingang des bunten Mischmaschs aus Pavillons und Anlagen soll ein russisches Märchenland zieren. Sein Wunderpark werde einen russischen Helden als Entsprechung zu Mickey Mouse haben, versichert der Meister: „Seinen Namen verrate ich nicht. Entweder er und Mickey werden Freundschaft schließen oder sich ein Duell liefern.“

Der „russische Winter“, der heute in Terechowo noch ganz reell stattfindet, soll in einen von mehreren Pavillons verbannt werden. Zu den unzähligen geplanten Attraktionen gehören auch ein „Haus aller Religionen“ und eine „Straße der Welt“, die unter anderem am Kölner Dom und an der Oper von Sidney vorbeiführen soll.

An einem der Ufer ist eine „Nachtstadt“ mit Unterhaltungsetablissements geplant. Dort können die Erwachsenen ihre Bildung fortsetzen, wenn die Kleinen im Bett liegen. Dass sie zum Übernachten eines der in dieser Zone geplanten Hotels benutzen werden, bezweifelt Zereteli offiziell nicht. Er schätzt die Bauzeit für den Wunderpark auf 13 Jahre und die Kosten auf 2 Milliarden Dollar. Über Investoren schweigt er.

„Ich kann auf diesem Boden meiner Vorfahren kein Haus bauen, um wie ein normaler Mensch zu leben“

„Wo will Moskau das Geld hernehmen, um so ein Disneyland am Laufen zu halten, wo schon das in Frankreich mit Defizit arbeitet“, so lautet der Kommentar eines Terechowoers, der gerade unter seinem Auto hervorkriecht. Er nennt seinen Familiennamen: Tokarjowo, und fügt stolz hinzu, der sei in den hiesigen Kirchenbüchern seit 1642 verzeichnet. „Ich kann auf diesem Boden, auf dem meine Vorfahren seit Jahrhunderten leben, kein Haus bauen, um wie ein normaler Mensch zu leben“, klagt er. „Das ist ein Albtraum! Mit uns hier rechnet niemand!“

Seit etwa vierzig Jahren dürfen die Terechowoer ihre Grundstücke weder bebauen noch verkaufen. Etwa die Hälfte der einst 130 Häuser wurden in den letzten Jahren geräumt. Ihre Bewohner ließen sich überreden, winzige Neubauwohnungen jenseits der Ringautobahn zu beziehen. In den leeren Gebäuden haben sich Stadtstreicher angesiedelt.

Herr Tokarjowo vermutet, an dieser Stelle werde eines Tages eine Landhaussiedlung für Reiche entsehen. Den Kinder-Wunderpark hält er nur für einen Vorwand für die Landnahme der Stiftung und sagt: „Wegen all dieser Chimären müssen wir leiden!“ Der Einzige, der in Terechowo etwas gebaut hat, ist Sergej Nikolajew. Der einstige Jazzmusiker, heute Mitte 50, hat in eine Sippe eingeheiratet, die hier seit 300 Jahren lebt. Sein neues Gebäude ist aus Ziegelsteinen, damit man es nicht so leicht abreißen kann. Außer Wohngemächern enthält es auch einen kleinen Theatersaal.

Nikolajew und seine Frau Tatjana beabsichtigen hier, ein „Blumentheater“ zu gründen. Blumen züchten die beiden seit Jahrzehnten. Durch Musikberieselung erzielen sie Dahlien von Menschenkopfgröße. Mit ihnen dekorierten sie schon häufig die Kremlbühne. Aber Gas-, Wasser- und Stromleitungen mussten sie selber an ihren Neubau heran verlegen – alles illegal! Da das Land weder dem Staat noch der Familie gehört, ist das Theatergebäude ein Niemandshaus. Im Gegensatz zu den verbitterten Tokarjowos, geht der hagere Exmusiker mit dem schwarzen Vollbart das Problem kreativ an. „Zereteli ist nur aus Trägheit überzeugt, dass ihm das hier gelingen wird“, meint er. „Ihm ist vieles gelungen. Aber das hier hängt nicht von ihm ab. Wo findet er in unserer Zeit einen Investor für so ein Unterfangen?“ Nikolajew weiß eine Alternative: „Wenn Zereteli das Gelände in Parzellen aufteilen würde, dann könnte er viele kleine Investoren finden. Und ich wäre einer davon.“

Inzwischen rotten die Terechowoer Holzhäuser weiter vor sich hin. Hin und wieder brennt eines von ihnen ab, dann kommt die Feuerwehr zu spät, und die Stadtstreicher verkriechen sich. Was einmal an Stelle ihres Dorfes sein wird, wissen die verbliebenen Einwohner nicht, nur, dass seine Tage gezählt sind. Von seiner Existenz könnte eine zukünftige Babuschka erzählen: „Zu Beginn des dritten Jahrtausends hat Moskau an dieser Stelle noch fast wie das alte Russland ausgesehen, wie ein Modell von Russland in irgendeinem Disneyland.“