piwik no script img

Archiv-Artikel

Save Our Soul

Im Schatten des HipHop-Erfolgs sind die Vorväter in Vergessenheit geraten. Aktivisten mühen sich nun um eine Brücke zwischen den Generationen

von TOBIAS RAPP

Es ist eine traurige Geschichte, die der Dokumentarfilm „Standing In The Shadows Of Motown“, der seit einigen Wochen in den USA läuft, gegen Ende erzählt. Als die Plattenfirma Motown im Mai 1983 mit einer großen Gala ihren 25. Geburtstag feierte, musste der Bassist James Jameson, das Rückgrat so gut wie jeder Motown-Produktion der Sechziger und frühen Siebziger, sich eine Eintrittskarte kaufen, um auch nur auf der Besuchertribüne Platz nehmen zu dürfen. Niemand hatte es für nötig befunden, ihn einzuladen, niemand erinnert sich mehr an ihn. Drei Monate später war er tot.

6 der 13 Funk Brothers, wie sich die Motown-Studioband nannte, leben heute noch, der Pianist und Keyboarder Johnny Griffith starb einige Tage vor dem Filmstart im November. „Standing In The Shadows Of Motown“ (der Titel ist eine Paraphrase des Four-Tops-Klassikers „Standing In The Shadows Of Love“) ist der Versuch, diese Musiker dem Vergessen zu entreißen. Schließlich haben sie mehr Nummer-1-Hits eingespielt als „Elvis, die Rolling Stones und die Beatles zusammen“, wie im Vorspann vermerkt wird.

What’s Going On?

„Standing In The Shadows Of Motown“ war einer der Überraschungserfolge im amerikanischen Kino des vergangenen Herbstes, noch immer läuft er in allen größeren Städten der USA in unabhängigen Kinos vor ausverkauften Sälen, gerade wurde ihm der 2002 New York Film Critics Circle Award verliehen. Es ist ein schöner und bewegender Film. Viele Anekdoten werden erzählt, man wird durch das Studio geführt, wo von „Dancing In The Streets“ und „Where Did Our Love Go“ bis zu „My Girl“ ungezählte Klassiker aufgenommen worden sind, und zwischendurch kann man den Funk Brothers dabei zuschauen, wie sie mit jungen Künstlern wie Me’Shell Ndegeocello oder Montell Jordan einige der alten Stücke neu einspielen.

Es ist ein Film, der versucht, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, und der damit einen Nerv getroffen zu haben scheint. Denn obwohl die schwarze Musik in den vergangenen Jahren einen unvergleichlichen Siegeszug über die ganze Welt angetreten hat und HipHop und R & B wie kaum ein Sound zuvor auf allen fünf Erdteilen die Plattenläden und Musikfernsehkanäle dominieren, ist es um das musikalische Erbe des schwarzen Amerika weit weniger gut bestellt. Zwar wird das große Soul- und Funk-Archiv gerne auf der Suche nach brauchbaren Samples durchstreift – dass die meisten der alten Recken aber noch leben und oft auch noch Musik machen, wird jedoch weithin ignoriert.

„Great Black Music From The Ancient To The Future“ ist das Motto von Soul Patrol, einer Homepage (www.soul-patrol.com), die sich zum Ziel gesetzt hat, dies zu ändern. Vor einigen Jahren von den Brüdern Bob und Mike Davis ins Leben gerufen, hat sie sich mittlerweile zu einer Art Grassroots-Netzwerk zur Rettung der Soulmusik ausgewachchert. Bob und Mike Davis sind Anfang vierzig, hat man sie vor sich, wirken sie eher wie die zwei leitenden Angestellten in der New Yorker Finanzindustrie, die sie tagsüber auch tatsächlich sind. Sobald man sich mit ihnen unterhält, spürt man allerdings das Sendungsbewusstsein zweier Idealisten, die ihre Abende und Nächte der herkulischen Aufgabe gewidmet haben, ihrer Idee von Save Our Soul eine Plattform zu schaffen.

Pasttime Paradise

Und die hat mit Nostalgie wenig zu tun, mit einer beinharten Indie-Attitude dagegen eine Menge. „Die Zeiten von Motown und den vielen kleinen Labels, die es damals gab, sind vorbei. Viele Leute unseres Alters glauben immer noch, du könntest einfach eine Platte aufnehmen, damit zu einem Radiosender spazieren und dann würde sie gespielt“, sagt Bob Davis, der Ältere der beiden. „So ist es aber nicht mehr. Wenn du heute Künstler bist, hast du genau zwei Möglichkeiten, deine Musik herauszubringen: Entweder du gehst zu einer der großen Plattenfirmen, dann brauchst du viel Glück, gutes Timing und die Bereitschaft, dem Konzern die Kontrolle über dein Schaffen zu übertragen, und musst ihm außerdem einen Großteil deines Geldes überlassen. Oder du wirst ein Independent Artist.“ Wer letzteren Weg geht, trifft bei den Davis-Brüdern auf offene Ohren und Arme. Das können Altmeister wie die Dells sein, eine legendäre Vocalgroup aus Chicago, die seit den frühen Fünfzigern aktiv ist, aber auch Nachwuchsmusiker wie der großartige Sonny Boy, ein Sänger, der an den frühen D’Angelo erinnert.

Reach Out (I’ll be there)

Für sie ist Soul Patrol da, in ihre neuen Platten kann man auf der Homepage hineinhören. Daneben stehen noch dutzende selbst produzierte Radioshows und eine riesige Datenbank zur Geschichte der „Great Black Music“. Das eigentliche Herzstück von Soul Patrol ist aber die Mailingliste, über die Tag für Tag mehrmals die diversen Postings der rund 7.000 Soul-Patrol-Mitglieder in die Welt herausgesandt werden. Das können endlose Diskussionen über Fernsehauftritte eines Stars sein (eine despektierliche Bemerkung über den Zustand der Stimme von Aretha Franklin etwa sorgte für tagelange erregte Debatten), Konzertbesprechungen (die dann wieder kommentiert werden), Erinnerungen an vergessene Songs (oder auch Zeichentrickserientrailermelodien), endlose Listen (etwa die der besten Temptations-B-Seiten), Fragen nach dem Verbleib vergessener Soulgrößen (in den allermeisten Fällen findet sich auch jemand, der die Antwort weiß). Aber auch Themen wie die Frage, was man eigentlich von einem schwarzen Außenminister wie Colin Powell zu halten habe, werden behandelt. All dies wird von Bob Davis liebevoll kommentiert, sortiert und regelmäßig durch Aufrufe ergänzt, die da empfehlen: Jeder, der wolle, dass sich etwas ändert, müsse als Allererstes seinen eigenen Hintern hochkriegen.

Die Davis-Brüder sind nicht die einzigen Soul-Patrol-Aktivisten. In den meisten amerikanischen Großstädten gibt es lokale Koordinatoren, die dafür sorgen, dass die ortsansässigen Soul-Patroler nicht vergessen, sich auf den Weg zu machen, wenn etwa Gil Scott-Heron das erste Konzert nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gibt, wenn eine alte Diva wie Bettye LaVette einen ihrer seltenen Auftritte hat oder einer der Soul-Patrol-Protegés in einem kleinen Club spielt. Keiner der Beteiligten bekommt Geld, die Mittel, die über Sponsoring hereinkommen, werden für den laufenden Betrieb der Seite ausgegeben.

You Keep Me Hanging On

„Eigentlich gibt es keinen vernünftigen Grund, warum wir beide dies machen“, antwortet Bob Davis, wenn man ihn nach seiner Motivation fragt. „Eigentlich leben wir auch so ein sehr angenehmes Leben. Wir glauben aber, eine moralische Verpflichtung dazu zu haben. Unsere Biografien sind die Erfolgsgeschichte der Civil Rights Era. Wir haben das gemacht, was die Toten der Bürgerrechtsbewegung von ihren Kindern erwartet haben.“ Tatsächlich haben die Davis-Brüder so etwas wie afroamerikanische Musterbiografien: Sie sind in Brooklyn aufgewachsen, haben all die Chancen genutzt, die ihnen die Post-Civil-Rights-Era bot, und nun leben sie in einem ruhigen Vorort von New York. „All die Erfahrungen, die wir gemacht haben, alles, was wir über Business oder über Technologie gelernt haben, das wollen wir weitergeben, damit es auch andere für sich nutzen können.“

Diese anderen sollen natürlich vor allem die Jüngeren sein, diejenigen, die in den USA als die so genannte „HipHop-Generation“ bezeichnet werden. Und hier liegt tatsächlich ein Problem. Denn auch wenn die HipHop-Kultur oft so erscheint, als sei sie im Wesentlichen eine Verlängerung und Neuinterpretation des afroamerikanischen musikalischen Erbes: für viele ältere Afroamerikaner sieht sie ganz anders aus. Für sie ist HipHop keine Fortsetzung, sondern das Ende schwarzer Kultur. Auch wenn es von Europa aus oft so scheint, als ob es vor allem die weißen Elternverbände wären, die gegen HipHop vorgingen – als moralisch verbrämtes Update alter rassistischer Vorurteile quasi –, so ist dies nur die halbe Wahrheit. Denn die schärfsten Kritiker des HipHop sitzen in den schwarzen Communities selbst. Es sind die durch die Bürgerrechtsbewegung geprägten Eltern, die nicht ertragen können, was da aus den Zimmern ihrer Kinder dröhnt.

The Love You Save

Es ist ein Konflikt, der auch ein Verteilungskampf ist – in den letzten Monaten hat etwa Clear Channel, das größte amerikanische Radionetzwerk, das Format seiner Black-Music-Sender von Classic Soul auf HipHop umgestellt –, aber längst nicht nur. Es ist ein Generationenkonflikt, der manchmal eine Schärfe annimmt, dass er fast wie ein Kulturkampf wirkt, und der sich auch in den Postings auf der Soul-Patrol-Mailingliste abbildet. Auf der einen Seite die bürgerrechtsgeprägten Eltern, die von Künstlern erwarten, dass sie ein positives Beispiel geben – und auf der anderen Seite deren Kinder, die angesichts solcher Forderungen lediglich die Achseln zucken.

„Teil der schwarzen Hoffnung seit den Tagen der Sklaverei war immer eine Haltung, die man so beschreiben könnte: Wenn wir heute etwas opfern, werden unsere Kinder es morgen besser haben“, sagt Bob Davis. „Und nun taucht auf einmal eine Generation auf, die sich darum nicht zu scheren scheint. Sie geht ihren eigenen Weg.“

Wenn Soul Patrol eines erreichen solle, dann: diesen Weg mit den anderen Wegen, die schon gegangen wurden, zu verbinden. Denn am Ende des Tages hänge ja doch alles zusammen, so Davis: „Um Ice Cube zu verstehen, musst du genauso viel über die Lebensumstände in South Central L. A. wissen wie über P-Funk. Aber wenn ich heute einen 17-Jährigen dazu bringen kann, die Dells zu hören, dann wird diese Musik weitere 50 Jahre leben.“