: „Ich leide da wie die Pest“
Interview JAN FEDDERSENund THILO KNOTT
taz: Frau Roth, nach dem Bremer Parteitag gingen Sie zum Konzert von Bruce Springsteen, um Ihre erste Niederlage in der Trennungsfrage von Amt und Mandat zu verarbeiten. Was haben Sie nach dem Parteitag in Hannover gehört? Die Götterdämmerung?
Claudia Roth: Eine meiner großen Lieben ist Bruce Springsteen nicht, aber er hat mich viele Jahre begleitet. Es war ziemlich heftig nach Bremen. Ich dachte mir, entweder du legst dich jetzt mit Migräne und Blues ins Bett, oder gehst raus und ziehst deine Glimmerklamotten an. Rock ’n’ Roll. Nach Hannover hab ich in der Tat bis morgens um fünfe mit steigender Lautstärke Musik gehört. Klar, Rio Reiser. Erstmal die eher tragischen Liebeslieder von ihm, dann ging’s weiter mit „Keine Macht für niemand“ und am Schluss „Der Traum ist aus“.
Rio Reiser ist Ihnen idealer Tröster?
Das hat zunächst was mit Familie zu tun. Aber auch mit der Musik – für jeden Gemütszustand, für jede Stimmung, für jedes Problem gibt’s einen Song von Ton Steine Scherben.
„Keine Macht für niemand“ – war das ein Anflug von Ironie?
Nein. Ich habe gedacht, ich muss unbedingt meine Gefühle rauslassen. Ich war gespannt, wann die Hotelgäste über mir anfangen würden, zu klopfen, aber es war okay.
Sie flogen 1997 nach Dublin, um beim Grand Prix live dabei zu sein. Und wenn Sie nicht vor Ort sind, dann wenigstens vor dem Fernseher. Wie passen Ihr Faible für den Grand Prix Eurovision und Rio Reiser zusammen?
Sehr gut sogar. Rio oder die Scherben haben sensationelle Schlager gemacht. Ich versteh gar nicht, warum wir nie am Grand Prix teilgenommen haben.
Weil die deutsche Musikindustrie in den 80ern ein Kartell war?
Sicher auch. Interesse hätte bestanden, denn Rio fand Sandie Shaw einfach klasse. Und dann noch barfuß – das war wunderbar.
Hätten die Scherben Chancen gehabt?
„Lass uns ein Wunder sein“ ist absolut Grand-Prix-tauglich. Und „Für immer und dich“ ist ohnehin sensationell.
Wie kommt das mit Ihrer Liebe zum Grand Prix?
Genauso wie ich Rio oder die Scherben höre, höre ich zum Beispiel auch Marianne Rosenberg rauf und runter. Der Grand Prix ist ein toller Event. Allein wie sich die einzelnen Länder darstellen, ist absolut interessant. Und neben der Musik finde ich es natürlich spannend, welches Land wie und für wen abstimmt.
Sie sitzen am Telefon und machen auch selbst mit?
Selbstverständlich. Seit man anrufen kann, mache ich da mit. Ich leide da wie die Pest. Weil ich natürlich auch einen Favoriten habe. Und dann das Drumherum, der Glamour – das ist klasse.
Und wie oft rufen Sie an?
Das kommt drauf an, wie mir die Titel gefallen.
Mochten Sie Nicole mit „Ein bisschen Frieden“?
Nein, das fand ich politisch zu korrekt.
Nicole wurde unterstellt, sie sei eine CDU-Tussi. War Ihnen nur ein bisschen Frieden zu wenig, zu konservativ?
CDU-Tussi, das ist ja gemein. Nicole war mir nicht stimmig, nicht authentisch genug. Wir, in der Friedensbewegung, hatten andere Songs, andere Antworten.
Aber 1982, Nato-Doppelbeschluss. Da war so ein offizieller Beitrag Deutschlands doch schon mutig?
Okay, respektabel schon. Aber doch zu sehr dem Zeitgeist hinterhergehechelt.
Wie ist das denn im Bundestag: Was wird da gehört? Und sind Fraktionsgrenzen auch Musikgrenzen?
CDU-Musik, Sozi-Musik, die Grünen-, PDS- oder FDP-Musik, das wäre vielleicht doch ein bisschen platt. Okay, Nina Hagen ist grün, Pur ist schon Rot-Grün. Sasha ist Dortmund und Bochum – also Sozi.
Würde Joschka Fischer zum Grand Prix fahren?
Ich könnte mir vorstellen, dass er als Außenminister den deutschen Beitrag in Riga am 24. Mai empfangen würde.
Gut, als Außenminister. Und sonst?
Ich weiß nicht, in welcher Phase er sich gerade befindet. Eigentlich ist er Rock ’n’ Roller. Aber dann kam auch mal die klassische Phase.
Klassik – das ist doch eindeutig Wolfgang Schäuble?
Ja, würde ich annehmen.
Und Guido Westerwelle?
(lacht) Ich glaube, da gibt’s Unterschiede – zwischen dem offiziellen und inoffiziellen Musikgeschmack.
Und der inoffizielle? Madonna?
Da will ich dem Kollegen jetzt nicht zu nahe treten.
Gibt es linke und rechte Musik?
Ich tu mich mit dieser Unterscheidung schwer. Allerdings musste ich mich mit dieser Frage schon insofern auseinander setzen, als ich das mit den Scherben erlebt habe. Die Scherben sind ja weiß Gott keine rechte Band. Aber irgendwann wurde der Song „Allein machen sie dich ein“ in einer rechtsextremen Postille veröffentlicht. Danach gab es ewig lange Diskussionen: Kann ein Song rechts oder links sein? Schlussendlich glaube ich nicht, dass es rechte und linke Musik gibt, sondern das gesellschaftliche Umfeld es bestimmt.
Deutschland ist eine Aufstiegsgesellschaft seit den Vierzigerjahren. Und Musik taugt dann irgendwann zur Distinktion: Ich fange in den Fünfzigern mit normaler Unterhaltungsmusik an, mache Karriere, verdiene Geld – und sage irgendwann: „Ich höre nur noch Jazz oder Klassik“. Warum ist es so schwer, sich zu seinen Wurzeln des Rock ’n’ Roll, des Pops, des Schlagers mit Lebenslust und Freude zu bekennen?
Rock ’n‘ Roll ist die Ausnahme. Aber sonst ist das schon Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls und mangelnden Selbstbewusstseins. Offensichtlich gibt es den krampfhaften Versuch, immer etwas anderes zu sein, vermeintlich besser zu sein und kulturell anspruchsvoller zu sein. Ich kenne das anders, ich bin anders aufgewachsen.
Wie?
Die Schlagerparade hatte ihren festen Platz an unserem Freitagabend. Meine Mutter fand Roy Black ätzend. Sie war ab 1965 gnadenloser Beatles-Fan. Und Fan von Scott McKenzie „San Francisco“. Was bei mir dazu geführt hat, dass ich auf die Stones und die Doors oder sonst was ausgewichen bin. Und immer gab’s die Frage: Wie kommen wir an die Musik aus den USA und Großbritannien. Klar gab’s bei uns zu Hause auch den Höchstwert des Sonntagnachmittags: Verdi, Rossini, Puccini. Mit „La Bohème“ beispielsweise wurden wir Töchter darüber aufgeklärt, wie schlecht die Männer sein können. Alle saßen da und heulten. Im vergangenen Jahr gab’s ein großes Familienfest, und meine Mama, eine ältere Dame in den Siebzigern, hat die neue Grönemeyer geschenkt bekommen. Sie sagte: „Ja, das finde ich ganz, ganz toll!“ Genau das ist es: das Gegenteil dieses Trimmens auf guten Geschmack. Es muss im Alter nicht auf Pat Metheny oder Keith Jarrett hinauslaufen.
Keith Jarretts „The Köln Concert“ ist wohl die meistverkaufte, ungehörte Platte der Musikgeschichte.
Ja, alle haben die im Plattenschrank stehen. Aber es gab sie da tatsächlich bei uns Linken, die Diskussion: Was ist ästhetisch erlaubt und was nicht? Die Scherben mussten immer „Keine Macht“ spielen – und natürlich die „Schwarze Front“ und die „Rote Front“. Und im Publikum saßen dann die arrivierten Exlinken oder die Professoren, die sich aufgeregt haben, dass man die Texte nicht gut verstanden hat, und sich aufgeregt haben, dass wir Eintritt genommen haben. Weil: Das macht man doch nicht, wenn man links ist! Und ganz schlimm waren Scherben-Lieder wie „Ich will raus aus dem Getto“. Da wurde einem gesagt, das sei doch nicht politisch, das sei doch nur ein individuelles Problem. Das habe ich daraus gelernt: Dass es richtig ist, von Liebe und Hass und Träumen und all meinen Fantasien zu erzählen.
Warum kommt die Linke mit Pop nicht ins Reine? Liegt das an der berüchtigen Angst vorm Volk?
Vielleicht nicht vorm Volk, sondern vor sich selbst. Viele Linke können – zumindest in Deutschland – ja nicht hedonistisch sein oder sagen „Ach, das ist unheimlich Scheiße, aber lass es uns genießen.“ Die deutsche Linke ist eine extreme Mackerlinke. Wo der Mann sich dadurch zeigt, wie besonders klug, wie besonders cool und wenig anfällig für so Unwichtiges, für Unpolitischeres ist. Italienische Linke zum Beispiel haben mir oft viel mehr Spaß gemacht.
Zurück zum Grand Prix. Wie fanden Sie den lettischen Siegersong in diesem Jahr?
Hat mir nicht gefallen. Da haben sie mich auch für verrückt erklärt.
Inwiefern?
Da war Landesparteitag der Grünen in Nordrhein-Westfalen, zweitägig, und ich war eingeladen als Vorsitzende. Ich habe zugesagt, aber nur unter der Bedingung, dass ich abends Grand Prix gucken kann.
Und das hat man Ihnen zugesichert?
Die haben alle gesagt, das guckt doch kein Mensch. Und ich: „Doch ich will das aber gucken, sonst komme ich nicht.“ Ich habe das dann mit Europapolitik begründet und man müsste mal gucken, wie Zypern abstimmt … Und dann saßen wir da, und es kamen immer mehr und wollten gucken. Es gab sogar ne große Lobby, typisch grün, für Belgien, war das nicht so ne eher altmodische Rocknummer mit Mackerattitüde? Und was waren die drei Transexuellen?
Slowenien! Slowenische Tunten!
Ja, das fanden einige der Jüngeren ganz nett. Ich hatte keine eindeutigen Titel, mir hat nichts so gefallen, muss ich sagen. Am ehesten noch die Malteserin, die Zweite wurde.
Die so inszeniert wurde, dass am Ende ihres Lied Glittersterne auf sie herabregneten?
Genau die. Die wirkte so zerbrechlich. Und ihr Lied gefiel mir einfach.
Was sagt Ihr Herz: Stefan Raab oder Guildo Horn?
Klar, Guildo Horn. Der ist echt, er ist ein echter Schlager. Raab macht sich nur lustig. Das mag ich nicht. Am liebsten war mir früher Johnny Logan.
Fanden Sie den erotisch?
Neee, aber seine Musik finde ich toll. Also ehrlich gesagt, ich finde die Frauen beim Grand Prix meistens besser. Also erotisch – eher so jemand wie Paul Young. Der Grand Prix ist, glaube ich, eher unerotisch. Bisher jedenfalls.
Nennen Sie uns mal die fünf wichtigsten Popkünstler in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg!
Also mit Pop meinen sie jetzt Schlager?
Völlig egal! Alles!
Okay, selbstverständlich Ton Steine Scherben, Marianne Rosenberg, Gitte mocht ich sehr. (überlegt) Drafi Deutscher, auf ne bestimmte Weise. (überlegt weiter)
Gehört Udo Jürgens noch dazu?
Ja, Udo Jürgens gehört dazu. Hab ich früher gehört. Da fehlen aber noch einige.
Wen würde Ihre Mutter nehmen?
Ich weiß, wen meine Mutter defintiv nicht nehmen würde. Aber die besten fünf? Moment, ich ruf sie mal an. (ruft an) Hallo Mama, was sind deine fünf deutschen Lieblingsmusiker? (Pause) Willi Forst. (Pause) Grönemeyer. Caterina Valente. Und wer noch? (Pause) André Heller und Marlene Dietrich. Okay, danke Mama!